Fragiles Produktionsverhalten automatisiert erkennen - Einfache Früherkennung deterministisch-chaotischen Verhaltens in hochverfügbaren Produktionssystemen

Martin Manns und Denny Höhnen

Routenflexibilität ermöglicht eine robuste, resiliente Gestaltung der Produktion. In hochverfügbaren, dezentral gesteuerten Produktionssystemen mit Zyklen im Materialfluss kann sie jedoch zu unerwünschtem deterministisch-chaotischen Verhalten führen. Dies kann Förderengpässe zur Folge haben, die dazu führen, dass die Systemverfügbarkeit in der Praxis hinter analytisch oder simulativ ermittelten Prognosen zurückbleibt. Im Beitrag wird eine Methode vorgestellt, die Ankunftszeiten analysiert und eine Messgröße für deterministisch-chaotisches Verhalten liefert. Mittels Algorithmen der Bildanalyse werden Daten aus speicherprogrammierbaren Steuerungen oder Embedded Systems ausgewertet. Anhand eines Beispiels eines Doppelgurtbandfördersystems wird gezeigt, dass sie sowohl im voll- als auch im teilautomatisierten Betrieb einsetzbar ist. Die Methode hat zudem das Potenzial, Industrie 4.0 Steuerungsprogramme nach IEC 61499 abzusichern.

Flexibilität, Wandlungsfähigkeit und Robustheit gegenüber unerwarteten Veränderungen gewinnen als Anforderungen an Produktionssysteme zunehmend an Bedeutung. Dabei werden unterschiedliche Flexibilitätsarten wie z. B. Variantenflexibilität, Kapazitätsflexibilität und Routenflexibilität unterschieden (vgl. [1]). Die Routenflexibilität ermöglicht es, Produkte auf unterschiedlichen Wegen durch die Produktion zu leiten. Das kann auf der Ebene der Lieferkette erfolgen, aber auch auf der Ebene der Produktionshalle oder innerhalb von Produktionszellen.

Die Werkstücke, die auf verschiedenen Routen die Produktion durchlaufen, benötigen unterschiedlich viel Zeit zum Durchlaufen der Produktionsprozesskette. Wenn sich zwischen den Stationen auf dem Weg eines jeden Produkts große Puffer befinden oder wenn die Güter aufeinander warten, bevor sie weitergeleitet werden, so bleibt die Anzahl an Systemzuständen beschränkt. In diesen Fällen kann das Systemverhalten beispielsweise mit Petri-Netzen modelliert werden (vgl. [2]). Wenn jedoch die Puffer etwa zur Beschränkung des Work-In-Progress (WIP) klein bleiben und im Materialfluss Zyklen vorkommen (etwa wiederverwendbare Kisten, Werkstückträger o. ä.) wächst die Anzahl an Systemzuständen hierfür zu schnell an. [3] liefert einen Überblick des Forschungsgebiets zur Planung und Optimierung solcher Anlagen. In [4] werden kausale Zyklusdiagramme zur Identifikation des Phänomens in Lieferketten genutzt.

Wird das Produktionssystem nicht global synchronisiert, dann wandern die Werkstücke (oder Aufträge) so durch den Prozess, dass ihre Zwischenankunftszeiten azyklisch variieren. In diesem Fall wächst die Anzahl an Systemzuständen unbeschränkt an. Die azyklischen Zwischenankunftszeiten folgen einer Zeitreihe, die sich aperiodisch verhält und die bei minimalen Änderungen der Anfangsbedingungen das Anlagenverhalten stark verändern kann (vgl. [5]). Dieses deterministisch-chaotische Zeitverhalten ist unerwünscht.

In der Praxis werden Produktionslinien mit Materialflusssimulationen abgesichert und optimiert. Während viele Verhaltensweisen und Optimierungspotenziale durch räumliche Visualisierung der Simulationsergebnisse anschaulich werden, ist deterministisch-chaotisches Zeitverhalten meist schwer zu erkennen. Hingegen ist dies im Poincaré-Diagramm selbst bei unbekanntem zugrundeliegenden Verhalten einfacher möglich [5]. In Poincaré-Diagrammen wird der n-te Wert einer Zeitreihe gegenüber dem n+1-ten Wert aufgetragen. Ergibt sich ein nicht konvergierendes Muster, bleibt das System dauerhaft instabil (die Grundidee wird etwa in [6] am Beispiel der logistischen Abbildung anschaulich vorgestellt).


Bild 1: Embedded System zur Erfassung von Ankunftsereignissen.

Die Relevanz dieses deterministisch-chaotischen Verhaltens wurde in einem Industrieprojekt deutlich. In einer hochverfügbaren, vollautomatisierten Anlage zur Sensorproduktion mit Zwischenausfallzeiten (MTBF) von über einer Woche wurde die analytisch ermittelte Ausbringung nicht erreicht. Es wurde von einer nicht optimal laufenden Station ausgegangen, die aber nicht gefunden werden konnte. Da die Anlage durchlief, gab es keine Pausen, Schichten ohne Arbeit oder Wochenendstillstände. In diesem Fall wirkte sich deterministisch-chaotisches Ankunftsverhalten so aus, dass immer wieder ein Materialflussengpass entstand, der sich kurz danach auflöste und mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen war.

Wird deterministisch-chaotisches Verhalten gemessen, kann eine Synchronisation zu diesem Zeitpunkt das Problem lösen. Ohne Messmethode ist es dagegen sehr schwierig, zu bestimmen, wie häufig synchronisiert werden muss, um ein robustes Systemverhalten zu gewährleisten (vgl. [7]). Das bedeutet, dass in der Praxis weder der Zeitverlust vorab abgeschätzt werden kann noch klar ist, ob die Synchronisationshäufigkeit bereits optimal ist.

Im Folgenden wird eine Methode zur Analyse von Ereignissen, hier Ankunftsereignissen, vorgestellt, die vergleichsweise einfach und intuitiv umzusetzen ist und die kein Vorwissen zu deterministisch-chaotischen Effekten voraussetzt.

Mit der Methode wird die Fragilität Fo an einem bestimmten Ort o gemessen. Sie macht sich zu Nutze, dass das Muster im Poincaré-Diagramm, auf dem Zwischenankunftszeiten liegen, für Materialflusssysteme meist ein Polygon ist (s. [8] für eine analytische Herleitung). Die Fragilität Fo zählt die Anzahl der Polygonkanten.

Das Poincaré-Diagramm wird erzeugt, indem die Zeiten zwischen zwei Ereignissen gemessen und so in ein Diagramm eingetragen werden, dass die n-te Zwischenankunftszeit auf der x-Achse und die n+1-te auf der y-Achse aufgetragen wird (vgl. Bild 3). Bei stochastischen Ereignissen würde sich eine Streuung ohne Muster ergeben. In einem deterministisch-chaotischen System entsteht ein Muster, d. h. die Punkte liegen auf einer sogenannten Trajektorie. In der industriellen Praxis werden diese Effekte von Zufallseffekten überlagert (vgl. [9]). Man erhält eine Mischung aus Muster und Streuung.

Im Fall von asynchron arbeitenden Materialflüssen ist der Ort o so zu wählen, dass er eine maximale Relevanz der Zeitpunkte der Ereignisse für die Gesamtverfügbarkeit besitzt. Das ist i. d. R. der Eingang in den Pufferbereich vor der Engpassstation. In größeren oder komplizierter aufgebauten Systemen kann eine Messung an mehreren Orten sinnvoll sein.

Die Messung an sich ist so gestaltet, dass sie für den Anwender einfach durchzuführen ist. Hierzu wurde ein Embedded System am FAMS-Lehrstuhl für Fertigungsautomatisierung und Montage der Universität Siegen prototypisch entwickelt. Dieses ermöglicht es, ohne einen Eingriff in die Steuerungstechnik Messungen durchzuführen. Die dem Maß Fo zugrundeliegenden Berechnungen (siehe unten) bleiben für den Nutzer unsichtbar. Falls gewünscht kann die Messung auch über die speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPSen) des Produktionssystems erfolgen.

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