Wenn die Warnlampe angeht…

Fällt ein Lieferant aus oder wird ein Großkunde zahlungsunfähig hat das erhebliche Auswirkungen auf das eigene Unternehmen. Werner Gleißner, Honorarprofessor an der Technischen Universität Dresden, ist ein Experte für das Risikomanagement. Er erklärt, welche Kennzahlen sich Unternehmen bei ihren Vertragspartnern anschauen sollten, um drohende Insolvenzen zu erkennen und die eigene zu vermeiden.

Welche Branchen sind denn besonders von der Insolvenz betroffen? 
Die größten Insolvenz-Risiken haben wir natürlich bei den Branchen, die durch den Lockdown am stärksten betroffen sind. Unternehmen aus der Reisebranche und alles, was mit Transport von Menschen zu tun hat. Also konkret zum Beispiel die Gastronomie, die Reise- und Flugzeugbranche und davon abhängig, die Flughäfen.

Wie schätzen Sie das Risiko für die Industrie oder das Baugewerbe ein? 
Relativ gering. Es gibt einige Branchen, die von dem Konjunktureinbruch besonders betroffen sind – Teile der Automobilindustrie zum Beispiel. Das Baugewerbe hat sehr wenig negative Auswirkungen abbekommen. Es hat insgesamt eine etwas erhöhte Insolvenzwahrscheinlichkeit. Die dürfte durch die Covid-19-Pandemie aber nicht angestiegen sein. 

Also wird die Krise für die Industrie glimpflich ausgehen?
Es ist für die Industrie eine Wirtschaftskrise wie andere auch. Die Industrie als Ganzes wird sicherlich einen Anstieg der Insolvenzwahrscheinlichkeiten erleben, aber eine Katastrophe erwarte ich nicht.  

Verhindern die wirtschaftlichen Hilfen Insolvenzen oder verzögern sie diese lediglich?
Die staatlichen Hilfszahlungen gingen ja an Branchen wie die Reisebranche, die Gastronomie und auch zum Teil in den Kultursektor. Da ist schwer zu sagen, wie sich das auswirken wird. Vermutlich wird es beides geben: Unternehmen, die durch die staatlichen Hilfszahlungen gerettet werden, aber auch eine ganze Reihe Unternehmen, die in die Insolvenz rutschen. Das Grundproblem ist sicherlich, dass sich durch die staatlichen Maßnahmen Insolvenzen aufstauen. 

Der Ausgang lässt sich also noch nicht abschätzen.
Pauschale Aussagen sind aus mehreren Gründen schwierig. Zum einen haben wir eine besondere Form der Krise: Eine Versorgungskrise, bei der ein wichtiger Produktionsfaktor – nämlich der Mensch – nicht vollständig zur Verfügung steht. Und solche Versorgungskrisen haben immer Substitutionseffekte zur Folge. Das heißt, es gibt Profiteure wie Digitalisierungsunternehmen und es gibt Unternehmen, die stark darunter leiden. Zudem haben wir die besondere Situation in Deutschland, weil sich die Rechtslage seit 01. Januar geändert hat. Es gibt mit dem StaRUG (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz Anm. d. Red.) neue Instrumente, um Insolvenzen durch Restrukturierungspläne abzufangen. Wir haben also auf der einen Seite einen Effekt, der die Risiken einer Insolvenz erhöht – nämlich die Krise. Und auf der anderen Seite einen, der sie reduziert – durch die neuen Instrumente. Wir haben noch keine empirischen Daten, wie sich der Nettoeffekt dieser beiden Sachverhalte auswirken wird. Gesamtwirtschaftlich ist es also schwierig, pauschale Aussagen zu treffen. Für einzelne Unternehmen kann man allerdings durchaus eine präzise Analyse erstellen. 

Ist es denn üblich die wirtschaftliche Situation von Vertragspartnern zu analysieren? 
Tatsächlich haben sich Unternehmen mit der möglichen Insolvenz ihrer Kunden und Lieferanten bisher wenig beschäftigt und fangen erst damit an. Das liegt daran, dass man erst mit seinen eigenen durch die Krise verursachten Problemen beschäftigt war. Erst jetzt nehmen Unternehmen zur Kenntnis, dass ein erheblicher Teil der Bedrohung auch daher kommen kann, dass wichtige Kunden und Lieferanten ausfallen könnten. Die präzise Analyse der Adressausfallrisiken ist bei den meisten Unternehmen jetzt erst am Start. Die üblichen Verfahren mit den Ausfallrisiken umzugehen, helfen in dieser Krise aber auch nicht weiter. 

Warum nicht? 
Man schaut sich normalerweise die historischen Daten an, zum Beispiel die Bilanz eines Unternehmens aus dem Vorjahr. Aber durch die Auswirkungen der Krise sind diese Daten nicht mehr werthaltig. Das heißt, ich brauche neue Instrumente. Ich darf nicht davon ausgehen, dass es dem Unternehmen so geht wie im letzten Jahr. Daher sind Prognosen erforderlich, mit denen man die möglichen Auswirkungen der Krise auf einen Kunden oder Lieferanten simuliert. 

Wie geht man hier am besten vor? 
Man macht sich als erstes ein Bild über den möglichen Ablauf der Krise. Dafür gibt es tatsächlich gute volkswirtschaftliche Prognosen, die über einen mittleren Verlauf, aber auch über Extrem-Szenarien informieren. Dann muss ich mir Gedanken darüber machen, wie beispielsweise Schlüsselkunden von mir betroffen sein werden. Also im Normalverlauf der Krise gibt es eventuell einen Umsatzeinbruch von zehn Prozent, möglich sind aber vielleicht auch 20 Prozent. Und ich muss mir Gedanken machen, wie es dieses Jahr weitergeht. Wenn ich den Umsatzeinbruch in einer Bandbreite simulieren kann, kann ich ausrechnen, wie sich bei meinen Kunden wichtige Kennzahlen weiterentwickeln. 

Welche sind das?
Die Eigenkapitalquote und die Rentabilität sind geeignete Kennzahlen. Wenn ich dann prognostizieren kann, wie es bei den Finanzkennzahlen weitergeht, kann ich daraus die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz ableiten. So kann ich sehen, bei welchem meiner Kunden oder Lieferanten es potenziell eng werden kann. 

Sind solche Kennzahlen frei zugänglich?
Sie können diese Daten bekommen. Es gibt Anbieter von Datenbanken, die sie bereitstellen. Viele der Daten sind aber auch öffentlich verfügbar – wie historische Bilanzen. Die Qualität ist jedoch manchmal etwas eingeschränkt. Abgesehen davon ist es nicht unüblich, solche Daten auch einfach von einem Schlüssellieferanten anzufordern. Man sagt, um eine strategische Liefervereinbarung zu treffen, möchte ich etwas über die finanzielle Solidität eines Lieferanten erfahren. Ich kann ihn daher anschreiben und sagen: Schick mir doch einfach die Bilanz. 

Was raten Sie, wenn sich die Lage bei einem Vertragspartner zuspitzt? 
Wenn ich feststelle, dass einer meiner Kunden oder Lieferanten bedroht ist, muss ich mir überlegen, welche Gegenmaßnahmen ich einleite. Da kann Anzahlung sinnvoll sein. Auf Lieferantenseite kann ein Erhöhen der Lagerbestände eine Maßnahme sein oder die gezielte Suche nach Ersatzlieferanten. Also wenn die Warnlampe angeht, ist es erstmal der Anstoß darüber nachzudenken, was ich tun kann, um die Bedrohung für mein Unternehmen zu reduzieren. 

Haben Unternehmen generell mehr als einen Lieferanten? 
Man hat in den letzten Jahren doch sehr stark auf Single-Sourcing gesetzt, weil man die Kostenvorteile beachtet hat und sich hauptsächlich daran orientierte. Man hat die Risiken, die damit verbunden sind, eher zu wenig beachtet. Das kann ein Lerneffekt der Krise sein – zu verstehen, dass eine Entscheidung für ein Single-Sourcing erhöhte Risiken bedeutet. Wir stellen leider fest, dass die Risiken, die mit unternehmerischen Entscheidungen verbunden sind, oft zu wenig einkalkuliert werden. 

Preisdruck und Preisdumping erhöhen aber auch den Druck auf Lieferanten. Faire Bezahlung könnte dann wiederum auch deren Überleben in Krisen sichern. Fehlt es an Fairness? 
Es geht weniger um Fairness als vielmehr darum, die Risiken adäquat zu berücksichtigen. Wenn ich eine Entscheidung treffe, muss ich den Risikoumfang einbeziehen. Das bedeutet zum Beispiel: Beliefere ich etwa einen stärker ausfallgefährdeten Kunden, dann muss dieser Kunde für sein Ausfallrisiko auch bezahlen. Solchen Kunden muss ich also einen höheren Preis berechnen, als einem Kunden der zum Bespiel ein Investment Grade hat. Daher muss ich über die adäquate Berücksichtigung von Risiken hinaus keine weiteren Fairness-Überlegungen anstellen.

Mehr von Werner Gleißner lesen Sie in seinem Beitrag  Quantifizierung des Adressausfallrisikos in der Krise in der aktuellen Ausgabe der Industrie 4.0 Management Produzieren in der Krise