Digitale Transformation greifbar für den Mittelstand - Entwicklung einer Roadmap für Industrie 4.0-Visionen in kleinen und mittleren Unternehmen

Robin Sutherland, Nicolas Wittine, Deike Gliem und Sigrid Wenzel

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen stehen noch immer vor der Herausforderung des digitalen Wandels. Reifegradmodelle bieten eine Möglichkeit, die Ist-Situation innerhalb des Unternehmens zu erfassen, und unterstützen die Bildung einer Industrie 4.0-Vision. Um die Überführung dieser Vision in konkrete Entscheidungsschritte zu ermöglichen, wird in dem vorliegenden Beitrag eine Methodik vorgestellt, mit der Unternehmen sich eine Roadmap für die Gestaltung des digitalen Wandels erarbeiten können.

Die Gestaltung des Transformationsprozesses stellt auch zwölf Jahre nach Vorstellung der Überlegungen zu Industrie 4.0 [1] für viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) eine große Herausforderung dar [2]. Die Akzeptanz gegenüber den mit der digitalen Transformation einhergehenden neuen Technologien, Methoden, Werkzeugen und Konzepten [3] stößt oftmals auf Zurückhaltung [4], erhöht die Angst vor Fehlentscheidungen und hemmt den Transformationsprozess insbesondere in KMU aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen sowie fehlendem Knowhow [5]. So gaben 2021 lediglich 33 % der für eine KfW-Studie befragten KMU an, ein Digitalisierungsvorhaben abgeschlossen zu haben [5].

Zur Unterstützung der Digitalen Transformation kann auf eine Vielzahl an Leitfäden und Reifegradmodellen (für eine Übersicht siehe [6]) zurückgegriffen werden, die sich insbesondere in Bezug auf ihren Aufbau und Umfang sowie ihre Detaillierung und Zielgruppe unterscheiden. Reifegradmodelle können anhand einer (Selbst-)Bewertung der Bestimmung der Ist-Situation dienen und einen Entwicklungspfad zu einem Soll-Zustand aufzeigen [7]. Ein Reifegradmodell besteht aus Themenfeldern (Dimensionen) und untergeordneten Aspekten (Indikatoren) [8]. Den Indikatoren werden verschiedene Merkmalsausprägungen zugeordnet, die zur Erreichung eines Reifegrades erfüllt sein müssen. Sie definieren sich beispielsweise über eine Likert-Skala mit aufsteigenden Reifegradstufen.

Aus dem erfassten Ist-Zustand lassen sich anschließend Entwicklungspfade ableiten, wobei an dieser Stelle die Grenzen eines Reifegradmodells erreicht sind. Damit KMU über die gewonnenen Erkenntnisse hinaus konkrete Digitalisierungsprojekte definieren und gestalten können, ist ein ergänzendes methodisches Unterstützungswerkzeug nötig. Ein häufig eingesetztes Kommunikationsmedium stellt eine Roadmap dar, die eine Übersicht von Entwicklungsschritten über einen strategischen Zeitraum gibt [9]. Somit lassen sich langfristige Industrie 4.0-Visionen in realisierbare Projekte gliedern, ohne dass sich ein Unternehmen in fehlgeleiteten Transformationsprozessen verliert. Zur Unterstützung von KMU bei der Entwicklung einer Roadmap für die Gestaltung des digitalen Wandels wurde eine ganzheitliche Methodik erarbeitet.


Bild 1: Ablauf der Methodik in Anlehnung an [10].

Methodik: Entwickeln einer Industrie 4.0-Roadmap im Team

Durch Anwendung dieser Methodik werden Industrie 4.0-Visionen schrittweise in eine Roadmap überführt. So werden KMU befähigt, ihre eigene Digitalisierungsstrategie zu entwickeln und ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu stärken. Der Ablauf der Methodik wird nachfolgend erläutert und ist in Bild 1 dargestellt.

Zur Initialisierung wird ein Roadmap-Team gegründet. Relevant ist dabei, die Roadmap-Verantwortlichkeit sowie die Notwendigkeit externer Unterstützung für Moderation oder Beratung zu klären. Im Roadmap-Team, das alle relevanten Funktions- und Arbeitsbereiche abdeckt, liegt der Fokus auf der inhaltlichen Ausgestaltung der Industrie 4.0-Vision. Um Transparenz und Akzeptanz im Unternehmen und gegenüber der Geschäftsleitung zu schaffen, ist die Kommunikation der Ergebnisse auch außerhalb des Teams wichtig. [9]

Die im Anschluss durchzuführende Ermittlung des Ist-Zustands bildet die individuelle Situation des Unternehmens innerhalb der digitalen Transformation ab. Dazu wird mithilfe des in [6] entwickelten KMU-spezifischen Reifegradmodells der Digitalisierungsgrad des Unternehmens bestimmt, wodurch eine ganzheitliche Betrachtungsperspektive geschaffen wird. Das verwendete Reifegradmodell umfasst sieben Dimensionen („Produkt“, „Produktion“, „(Ablauf-)Organisation“, „IT und Daten“, „Management, Führung und Kultur“, „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, „Geschäftsmodell und Netzwerk“) mit insgesamt 29 Indikatoren. Diese Indikatoren werden anhand von fünf Ausprägungen (Reifegradstufen: 0 = Beginner bis 4 = Exzellenz) gegenübergestellt. Zur Ermittlung unternehmensspezifischer konkreter Reifegradstufen erfolgt bei diesem Reifegradmodell die Bewertung anhand eines geführten mehrstündigen Interviews (ca. 100 Fragen) [6].

Neben der Erfassung der Ist-Situation innerhalb eines Unternehmens bietet das entwickelte KMU-spezifische Reifegradmodell auch die Möglichkeit, eine konkrete Industrie 4.0-Vision abzubilden. Zur Unterstützung der Formulierung einer Industrie 4.0-Vision stehen bereits ausgewählte Visionen in Form von sog. Industrie 4.0-Karten (z. B. die Anwendung von Augmented Reality und Virtual Reality, siehe Bild 2) zur Verfügung. Die vorgefertigten Industrie 4.0-Karten sind unternehmensspezifisch anpassbar bzw. erweiterbar. Zudem kann auch nach demselben Schema eine eigene Karte formuliert werden.

Diese Industrie 4.0-Karten schaffen ein gemeinsames Verständnis im Roadmap-Team und dienen als Grundlage für das weitere methodische Vorgehen. Jede Industrie 4.0-Karte beinhaltet eine Beschreibung der thematisierten Industrie 4.0-Vision sowie eine Einschätzung des Zusammenhangs der Industrie 4.0-Vision mit den Dimensionen des Reifegradmodells in Form einer Punkteverteilung (0 bis 3). Diese erfolgt für jede der sieben Dimensionen anhand des Verhältnisses der relevanten Indikatoren und der Gesamtanzahl der Indikatoren der betrachteten Dimension. Dabei gilt ein Indikator als relevant, wenn dieser für die Vision höher als Stufe 0 ausgeprägt sein muss. Damit die Ergebnisse trotz unterschiedlicher Anzahl an Indikatoren pro Dimension vergleichbar bleiben, wird im Schema der Industrie 4.0-Karten eine Normalisierung auf drei Punkte durchgeführt. Dies geschieht durch die Multiplikation des Verhältnisses mit dem maximalen Skalenwert sowie anschließendem Aufrunden auf ganze Punkte. Somit wird die Verknüpfung der Industrie 4.0-Vision mit den Dimensionen des Reifegradmodells greifbar.


Bild 2: Beispiel einer Industrie 4.0-Karte.

Zur Abbildung des Soll-Zustandes wird die Industrie 4.0-Karte in das Reifegradmodell übertragen, indem für die relevanten Indikatoren die notwendigen Reifegradstufen ausgewählt werden. Anschließend sind konkrete Aktionen durch eine Deltabetrachtung zwischen der zuvor skizzierten Industrie 4.0-Vision (Soll-Zustand) und dem Digitalisierungsgrad des Unternehmens (Ist-Zustand) zu identifizieren. Als Hilfestellung dienen dabei die Beschreibungen der einzelnen Reifegradstufen eines Indikators. So lassen sich aus den definierten Anforderungen der jeweiligen Reifegradstufe explizite Aktionen (z. B. Stammdaten zentralisieren oder Schulungskonzepte entwickeln) ableiten, die im späteren Verlauf in der Roadmap zu finden sind. Die Aktionen werden (z. B. auf Notizzetteln) festgehalten sowie dimensionsunabhängig in eine Tabelle (sog. Priorisierungsmatrix) eingetragen. Durch Letztere können die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Aktionen identifiziert und systematisch in der Roadmap angeordnet werden.

In der Priorisierungsmatrix werden alle Aktionen in Zeilen und Spalten eingetragen und anschließend paarweise verglichen (vgl. Paarvergleich in [11]): Wenn eine Aktion in der Zeile als Grundlage für eine Aktion in der Spalte notwendig ist, dann wird eine 1 eingetragen; falls kein Zusammenhang besteht, wird eine 0 notiert. Unter Berücksichtigung dieser Regel wird der Paarvergleich vollständig durchgeführt und eine vorläufige Priorisierung anhand der Zeilensummen vorgenommen.

Die Priorisierungsmatrix bildet die Basis für die Erstellung der Roadmap, deren Aufbau die sieben Dimensionen des Reifegradmodells und einen Zeitstrahl umfasst (Bild 1 unten). Die einzelnen Aktionen werden abhängig von ihrer Dimension in die Roadmap eingetragen. Zunächst wird die Aktion mit der höchsten Priorisierung in die Roadmap eingeordnet. Anschließend werden die von ihr abhängigen Aktionen (erkennbar durch eine 1 in der Matrix) übertragen und diskutiert. Danach folgt die Aktion mit der zweithöchsten Priorisierung und deren abhängigen Aktionen. Die Anordnung bereits platzierter Aktionen kann sich dabei gegebenenfalls ändern. Dieses Vorgehen wird so lange wiederholt, bis alle Aktionen eingetragen sind und sich die Anordnung nicht mehr ändert. Anschließend können mögliche Restriktionen diskutiert, wichtige Ziele und kritische Wechselwirkungen hervorgehoben sowie thematische oder auch dimensionsübergreifende Cluster gebildet werden. Im Anschluss wird im Roadmap-Team ein qualitativer Zeithorizont abgestimmt.

Damit die Roadmap keinen reinen Selbstzweck erfüllt, sind abschließend explizite Folgeaktivitäten zu formulieren, die Projektierung einzuleiten sowie die Ergebnisse in eine Unternehmensvision zu überführen. Für die Projektierung kann sich an gängigen Projektmanagementmethoden [11] orientiert werden.

Evaluation durch einen praxisorientierten Workshop

Zur Erprobung wurde die entwickelte Methodik in einen ganztägigen Workshop überführt. In diesem wurde für eine realitätsnahe Anwendung ausgehend von einem fiktiven Beispielunternehmen eine Industrie 4.0-Vision erarbeitet und anschließend in eine konkrete Roadmap überführt. Das Beispielunternehmen produziert 250.000 Locher pro Jahr, erzielt 3,9 Mio. € Umsatz, hat 42 Angestellte und ist hierarchisch organisiert. Damit die unterschiedlichen Industrie 4.0-Karten umgesetzt werden können, sind über diese allgemeinen Informationen hinaus noch detailliertere Angaben zum Unternehmen vorhanden. So existiert eine Stückliste, aus der auch die nötigen Produktionsschritte abgeleitet werden können. Das sich daraus ergebende Fabriklayout ist in 2D und 3D modelliert worden (Bild 3) und enthält Produktionsmengen, Taktraten und Logistikabläufe. Darüber hinaus wird der Material- und Informationsfluss in einem Wertstromdiagramm dargestellt.

Basierend auf diesem Beispiel und dessen Digitalisierungsgrad wurde in Kleingruppen die vorgestellte Methodik angewendet. Die Gruppen haben jeweils eine unterschiedliche Industrie 4.0-Karte ausgewählt und deren Soll-Zustand ins Reifegradmodell eingetragen. Die über die Deltabetrachtung abgeleiteten Aktionen wurden mithilfe der Priorisierungsmatrix verglichen und priorisiert. Anschließend wurden die Aktionen in eine Roadmap überführt und um kritische Wechselwirkungen und einen Zeithorizont erweitert.

Die Methodik wurde im Rahmen des Workshops durch Anwendung von acht Teilnehmerinnen und Teilnehmern (Geschäftsführung, Produktions-, IT- und Digitalisierungsverantwortliche) aus der Industrie evaluiert [10]. Diese Evaluation wurde unterstützt durch einen anonymen Fragebogen. Die einzelnen Fragen wurden durch eine fünfstufige Likert-Skala von „Trifft nicht zu“ (1 Punkt) bis „Trifft zu“ (5 Punkte) abgefragt. Insbesondere die Strukturierung des Workshops (4,6 Punkte), das entwickelte Beispielunternehmen (4,5 Punkte) und die Methodik zur Entwicklung einer Roadmap (4,4 Punkte) wurden positiv bewertet. Weiter gaben alle an, dass die Teilnahme am Workshop einen Mehrwert darstellt (4,5 Punkte) und sie die Methodik auch zukünftig anwenden werden (4,1 Punkte).


Bild 3: Digitales Abbild des Beispielunternehmens in 2D (links) und 3D (rechts) [10].

Den digitalen Wandel aktiv gestalten

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Methodik bei dem jeweiligen Digitalisierungsgrad des Unternehmens ansetzt und durch die Industrie 4.0-Karten konkrete Möglichkeiten zur Umsetzung bietet. Durch den schrittweisen Aufbau der Methodik lassen sich Aktionen anhand eines Reifegradmodells identifizieren, priorisieren und in eine Roadmap überführen. Die praktische Umsetzung der Roadmap wird durch die Definition von Folgeaktivitäten angestoßen. Die entwickelte Methodik wird als allgemeingültig angenommen und ist grundsätzlich unabhängig vom Anwendungsfall; ihre Allgemeingültigkeit und auch die unternehmensspezifische Übertragbarkeit sind jedoch durch weitere Erprobungen zu untersuchen.

Allerdings müssen bei der Planung und Gestaltung von Industrie 4.0-Visionen auch die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen für Arbeitsplätze und daraus resultierend die möglicherweise notwendigen Veränderungen der Kompetenzprofile des Personals berücksichtigt werden. Zur Vermeidung von Verzögerungen und Fehlplanungen sind vorhandene sowie notwendige Kompetenzen zu ermitteln und in den Planungsprozess einzubeziehen. Außerdem sind Methoden zu erarbeiten, mit denen geeignete Kompetenzprofile für zukünftige Arbeitsplätze abgeleitet werden können. Dies gilt sowohl für den manuellen Arbeitsplatz als Planungsgegenstand als auch für den Arbeitsplatz in der Planungsabteilung.

Der erarbeitete Workshop wird als eigenständige Weiterbildung angeboten und richtet sich an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mittelfristig die Digitalisierung in ihrem Unternehmen vorantreiben wollen oder aber vom Wandel direkt oder auch indirekt betroffen sind.

Das Forschungsprojekt „KMU-Wissenstransferlabor Digitale Fabrik“ mit einer Laufzeit von drei Jahren (01/2020 – 12/2022) wurde aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) 2014 bis 2020 (IWB-EFRE-Programm Hessen) und aus Mitteln des Landes Hessen gefördert.

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Schlüsselwörter:

Industrie 4.0, KMU, Reifegradmodell, Roadmap, Workshop

Literatur:

[1] Kagermann, H.; Lukas, W.-D.; Wahlster, W.: Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution. URL: bit. ly/3lyHpPd, Abrufdatum 23.06.2023.
[2] BMWi: Erschließen der Potenziale der Anwendung von „Industrie 4.0“ im Mittelstand. URL: http://bit.ly/ 3jUDkV6, Abrufdatum 23.06.2023.
[3] WGP: WGP-Standpunkt Industrie 4.0. URL: bit.ly/3lxUic8, Abrufdatum 23.06.2023.
[4] Von Wascinski, L.; Weiß, M.; Tilebein, M.: Industrie 4.0 für die Textil- und Bekleidungsindustrie. In: Matt, D. T. (Hrsg): KMU 4.0 – Digitale Transformation in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Berlin 2018.
[5] KfW Research: KfW-Digitalisierungsbericht Mittelstand 2021: Corona-Pandemie löst Digitalisierungsschub aus, die Digitalisierung wird aber nicht zu einem Selbstläufer. URL: bit.ly/3Sd0jaF, Abrufdatum 23.06.2023.
[6] Wittine, N.; Sutherland, R.; Wenzel, S.; Amaral Bicalho, A. L.: Analysing the state of digitisation in SME – A survey based on an SME-specific maturity model. In: Herberger, D.; Hübner, M. (Hrsg): Proceedings of the 2nd Conference of Production Systems and Logistics (CPSL 2021). Hannover 2021.
[7] Altuntas, M.; Uhl, P.: Grundlagen der Entwicklung von Reifegradmodellen. In: Altuntas, M.; Uhl, P. (Hrsg): Industrielle Exzellenz in der Versicherungswirtschaft. Wiesbaden 2016.
[8] Akkasoglu, G.: Methodik zur Konzeption und Applikation anwendungsspezifischer Reifegradmodelle unter Berücksichtigung der Informationsunsicherheit. Nürnberg 2014.
[9] Isenmann, R.: Technologie-Roadmapping für kleine und mittlere Unternehmen – Vom Konzept des T-Plans zum Leitfaden für KMU. In: Möhrle, M. G.; Isenmann, R. (Hrsg): Technologie-Roadmapping. Berlin Heidelberg 2017.
[10] Wenzel, S.; Gliem, D.; Jessen, U.; Stolipin, J.; Sutherland, R.; Wittine, N.: Abschlussergebnisbericht KMU-Wissenstransferlabor „Digitale Fabrik“. Kassel 2023.
[11] Drews, G.; Hillebrand, N.: Lexikon der Projektmanagement-Methoden, 2. Auflage. Freiburg 2010.