
Potenziale digitaler Technologien im Scope 3-Carbon Accounting
Der Klimawandel stellt eine der größten Herausforderungen für Unternehmen dar. Um Strategien für die Dekarbonisierung der eigenen Geschäftstätigkeiten festlegen zu können, ist die Berechnung von Treibhausgasemissionen notwendig. Insbesondere die Erfassung von Daten entlang der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette (Scope 3) ist gegenwärtig ein komplexer, ressourcenintensiver und häufig ungenauer Prozess. Entsprechend wächst der Bedarf nach innovativen Lösungen, um das Scope 3-Carbon Accounting zu verbessern. Dieser Beitrag zeigt auf, wie digitale Technologien das Scope 3-Carbon Accounting unterstützen können.
Der Druck wächst vonseiten verschiedener Stakeholder, dass Unternehmen Verantwortung für den Klimawandel übernehmen [1]. So sorgen Kunden und Investoren, aber auch Wettbewerber, durch steigende Nachfrage bzw. Angebote nachhaltiger Leistungen dafür, dass Unternehmen tätig werden [2]. Auch Regierungen werden immer aktiver und weiten Berichtspflichten aus. Entsprechend wächst die Anzahl an Unternehmen, die ihre direkt erzeugten Emissionen (Scope 1) sowie indirekten Treibhausgasemissionen aus eingekaufter Energie (Scope 2) berechnen. Durchschnittlich entstehen allerdings 75 % der Emissionen indirekt durch unternehmerische Aktivitäten entlang der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette (Scope 3) [3]. Die Scope 3-Emissionen lassen sich gemäß dem Greenhouse-Gas-Protokoll [4], dem zentralen Standardisierungswerk für Treibhausgasemissionen von Unternehmen, in 15 Kategorien unterteilen (Bild 1).
Durch die Implementierung des Scope 3-Carbon Accounting erhalten Unternehmen ein Verständnis für die in der eigenen Wertschöpfungskette freigesetzten Treibhausgasemissionen [4]. Daraus können Unternehmen effektive Reduktionsziele und -maßnahmen ableiten und gemeinsam mit ihren Partnern in der Wertschöpfungskette vorantreiben [4]. Aufgrund der Vielzahl an Lieferanten und Produkten ist die Erfassung von Emissionen in der Lieferkette jedoch schwierig, sodass Emissionen über die direkten Lieferanten hinaus oftmals nicht verfolgt werden [5]. Der Einsatz von digitalen Technologien bietet Unternehmen diesbezüglich große Potenziale, um die Handhabung des Scope 3-Carbon Accounting transparenter, konsistenter und genauer zu gestalten [6].
Scope 3-Carbon Accounting
Ein gängiges Verfahren zur Ermittlung der Scope 3-Emissionen stellt das Carbon Accounting dar [4]. Der Prozess des Scope 3-Carbon Accounting lässt sich, wie in Bild 2 dargestellt, in vier wesentliche Schritte zusammenfassen [4, 5, 7]: (1) Die Vorbereitung umfasst sowohl die Festlegung der Unternehmensziele als auch die organisationalen sowie operationalen Grenzen für die Scope 3-Bilanz. Damit wird sichergestellt, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt sowie die Scope 3-Emissionen angemessen dargestellt werden können. (2) Im nächsten Schritt wird eine Strategie ausgearbeitet, um die Datenerfassung bestmöglich umzusetzen. Das bezieht sich auf die Aktivitätsdaten, wie dem Mengeneinsatz eines Materials, sowie die dazugehörigen Emissionsfaktoren. Abhängig von der Verfügbarkeit sowie der Qualität dieser Daten, werden Primär- oder Sekundärdaten verwendet. (3) Anschließend erfolgt in der Datenverarbeitung die Berechnung der Scope 3-Emissionen mittels geeigneter Methoden. Falls später notwendig, werden summarische Emissionen z. B. auf Produktebene alloziert und entsprechende Emissionsfaktoren für die Weitergabe an Kunden abgeleitet. (4) Schließlich kann die Scope 3-Bilanz, gemeinsam mit den Scope 1 und 2 Emissionen, offengelegt und das Emissionsverhalten des Unternehmens nachverfolgt werden.
Bild 1: Scope 1, 2 und 3 Treibhausgasemissionen gemäß dem Greenhouse-Gas-Protokoll [4].
Stand der Praxis
Zur Umsetzung des Scope 3-Carbon Accounting kommen in der Praxis bereits verschiedene technische Lösungen zum Einsatz. Oftmals nutzen Unternehmen für die Erfassung der Gesamtemissionen Emissionsrechner basierend auf Tabellenkalkulationsprogrammen wie Microsoft Excel [8]. Durch Eingabe der Aktivitätsdaten aus betrieblichen IT-Systemen (z. B. ERP) ermöglichen diese die Berechnung und Visualisierung der Scope 3-Emissionen über hinterlegte Formeln. Diese Lösung bietet eine geringe Einstiegsbarriere und hohe Flexibilität, bedarf aber auch der regelmäßigen Aktualisierung der Aktivitätsdaten und Emissionsfaktoren. Der erhebliche manuelle Aufwand führt dazu, dass sowohl Primär- als auch Sekundärdaten nicht kontinuierlich angepasst werden, was die Erfassung der Scope 3-Emissionen erschwert [5]. Des Weiteren können für das Scope 3-Carbon Accounting webbasierte Tools eingesetzt werden [9]. Genauso wie die Excel-Emissionsrechner bieten sie eine niedrige Einstiegsbarriere für Unternehmen. Da sich die Tools jedoch oftmals unterschiedlichen Modellberechnungen bedienen, variiert die berechnete Scope 3-Bilanz erheblich [9].
Zudem sind die Tools häufig nicht flexibel anpassbar, sodass Emissionsfaktoren für die Berechnung von Scope 3-Emissionen bei Unternehmen mit langen und diversen Lieferketten fehlen können. Daher eignen sich webbasierte Tools primär für die Erstellung eines groben Überblicks über die Größe der Scope 3-Emissionen [9]. Um die manuelle und fehleranfällige Datenerfassung zu reduzieren, kommen zunehmend Software-Lösungen für die Scope 3-Bilanz zum Einsatz [10]. Diese sollen u. a. die Komplexität der Datenerfassung bewältigen und die Zusammenarbeit vereinfachen. Aufgrund fehlender Primärdaten entlang der gesamten Wertschöpfungskette nutzen auch diese Lösungen häufig generische Daten aus Datenbanken [11]. Dadurch ist die Genauigkeit, die Überprüfbarkeit sowie die Konsistenz der Ergebnisse begrenzt, weswegen sie nicht die wirklichkeitsnahen Scope 3-Emissionen des Unternehmens abbilden können. Insbesondere nachgelagerte Aktivitäten, wie die Verwendung der verkauften Produkte, sind davon betroffen [5].
Bild 2: Schritte des Scope 3-Carbon Accounting [4, 7].
Einsatzpotenziale digitaler Technologien
Wenngleich also technische Lösungen verfügbar sind, stehen Unternehmen stets vor erheblichen Herausforderungen bei der Erfassung von Primärdaten [11]. Initiativen, wie Catena-X, arbeiten deshalb an einem digitalen Ökosystem mit einheitlichen Standards für den Datenaustausch entlang der Wertschöpfungskette, um die Digitalisierung von Emissionsdaten voranzutreiben [10]. Insbesondere die Anwendung verschiedener Standards (z. B. ISO-Normen) sowie das Fehlen branchenspezifischer Richtlinien führen dazu, dass Scope 3-Ergebnisse von Unternehmen heterogen und schwer nachvollziehbar sind [5]. Neue, technologische Innovationen können hierbei die Erfassung von Emissionsdaten zwischen Lieferanten und Kunden unterstützen und so zu mehr Effizienz und Transparenz beim Scope 3-Carbon Accounting führen [12]. Insbesondere die Integration von digitalen Technologien, wie Cloud Computing, Blockchain, Internet der Dinge oder künstliche Intelligenz, können Unternehmen maßgeblich bei der Ermittlung ihrer Scope 3-Bilanz unterstützen.
Cloud Computing bietet beispielsweise für Unternehmen das Potenzial der Flexibilität und Skalierbarkeit, um Emissionsdaten zu berechnen und diese den unterschiedlichen Akteuren entlang der Lieferkette bereitzustellen [13, 14]. Auch kann eine cloudbasierte Lösung Daten aus den IT-Systemen verschiedener Akteure integrieren und diese Informationen dann zur Berechnung der Scope 3-Emissionen verwenden [13]. Dadurch kann der Datenaustausch zwischen Lieferanten und Kunden erleichtert werden sowie das Scope 3-Carbon Accounting eine höhere Datengenauigkeit erhalten [13]. Überdies kann das Cloud Computing auch das Monitoring von den Emissionsinformationen in vernetzten Lieferkettenprozessen sowie die interorganisationale Zusammenarbeit fördern [14]. Die Bereitschaft zur Teilung von Emissionsdaten vonseiten der Lieferanten kann durch den Einsatz der Blockchain-Technologie in den technischen Lösungen verstärkt werden [15]. Dies ermöglicht vor allem der dezentrale Aufbau des Blockchain-Netzwerks, in dem Daten mittels Kryptographie verifiziert und geteilt werden [16]. Damit kann insbesondere für berichtende Unternehmen die Rückverfolgbarkeit von Lieferantendaten im Netzwerk sowie die Erfassung der sonst schwer zugänglichen Emissionsdaten von indirekten Lieferanten verbessert werden [12, 17]. Beispielsweise setzt der Einzelhandelskonzern Walmart, der dazu eine Partnerschaft mit IBM eingegangen ist, die Blockchain-Technologie für ebendiese Nachverfolgung bei seinen Lieferanten ein [12].
Für eine einfache Handhabung ist es sinnvoll, wenn Lieferanten mehr Ressourcen aufbauen, um deren Bereitschaft zur Teilnahme an ebensolchen Lösungen zu erhöhen [18]. Alternativ können berichtende Unternehmen mit eigenen Ressourcen in den Aufbau von Fähigkeiten ihrer Lieferanten investieren, damit entsprechende Daten geteilt werden [12, 18]. Hierbei gilt das Internet der Dinge als vielversprechende Technologie. Beispielsweise können über eine verteilte Sensorik Daten von Lieferanten, z. B. Materialien und Produkte, automatisch gesammelt und über Geräte in Echtzeit miteinander vernetzt werden [19]. Darüber hinaus können ebendiese IoT-Geräte, aufgrund der Fähigkeit zur Synchronisation, dazu beitragen, dass Emissionsdaten entlang der Wertschöpfungskette, auch nachgelagert, von Unternehmen nachverfolgt werden können [20].
Auch die künstliche Intelligenz, hier im Wesentlichen durch das maschinelle Lernen vertreten, wird im Scope 3-Carbon Accounting eingesetzt. Durch trainierte Datenmodelle können Datensätze in den technischen Lösungen automatisch aufbereitet, Datenlücken gefüllt und so Scope 3-Emissionen mit einer höheren Genauigkeit berechnet werden [21]. Dadurch können die Effizienz der Berechnung und die Datenzuverlässigkeit beim Datenaustausch erhöht werden. Bild 3 stellt dar, in welchen Feldern die genannten digitalen Technologien das Scope 3-Carbon Accounting erweitern.
Bild 3: Potenziale digitaler Technologien [eigene Darstellung].
Fazit
Der Beitrag zeigt, dass digitale Technologien auf unterschiedliche Art und Weise Unterstützung im Scope 3-Carbon Accounting bieten. Sie können dazu beitragen, dass die Scope 3-Bilanz transparenter, effizienter und auch sicherer wird. Insbesondere ermöglicht der Einsatz digitaler Technologien eine genaue Erfassung von Lieferantendaten, die für die Umsetzung von Reduktionszielen entlang der Wertschöpfungskette für Unternehmen unabdingbar ist. Erste Weichen sind gestellt, jedoch ist eine stärkere Zusammenarbeit erforderlich, um die technischen Möglichkeiten in der Praxis auszuschöpfen. Dazu müssen Kunden und Lieferanten sowohl das Carbon Accounting in den Unternehmen fest integrieren als auch bereit dafür sein, Emissionsdaten mithilfe von innovativen Lösungen entlang der Wertschöpfungskette zu teilen.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts „Entwicklung eines Konzepts für den Einsatz von digitalen Technologien im Scope 3 Carbon Accounting“ (IGF Nummer: 21899 N), das von der Forschungsvereinigung Institut für Energie- und Umwelttechnik e.V. (IUTA) unterstützt und durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert wird.
Schlüsselwörter:
Scope 3, Carbon Accounting, Digitalisierung, TechnologienLiteratur:
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