
Störungsmanagement mit digitalen Assistenzsystemen - Ein generischer Ansatz für den Produktlebenszyklus
In der Herstellung und im Betrieb komplexer Unikatprodukte treten unvermeidbar Störungen auf. Diese beeinflussen die Qualität und den Ressourceneinsatz während der Produktion sowie die Einsatz- und Lebensdauer des späteren Produkts nachteilig. Aufgabe des Störungsmanagements ist es, Störungen zügig und mit geringem Aufwand zu dokumentieren und die Entstörung zu unterstützen. In der Praxis zeigen sich häufig Defizite: Unternehmen erfassen Störungen auf Papier oder in der Tabellenkalkulation, dokumentieren sie nicht strukturiert und können so weder die von den Störungen betroffenen Folgearbeiten ausreichend schnell informieren noch die eigentliche Entstörung ausreichend unterstützen. Der Einsatz digitaler Assistenzsysteme erleichtert die Dokumentation: Sie steigert die Informationsqualität durch eine Verortung im CAD-Modell, stellt Störungen übersichtlich im Generalplan des Produkts dar und beschleunigt so eine zielgerichtete Entstörung. Ein generisches Datenmodell ermöglicht es, Assistenzsysteme für unterschiedliche Produkte, für unterschiedliche Gewerke/Prozesse und in unterschiedlichen Produktlebensphasen zu nutzen. Damit gelingt es, Störungen aus verschiedensten Prozessen einheitlich zu betrachten und phasenübergreifend einen Erkenntnisgewinn zu erlangen.
In der Unikatfertigung treten insbesondere die folgenden Störungen auf [1-3]:
• Offene Punkte in Abnahmelisten bei Zwischenabnahmen
• Beanstandungen bei der Kundenabnahme und im späteren Betrieb
• Materialversorgung, z. B. ein Mangel an Material
• Aufgabenzuweisungen, z. B. unklare Aufgabendefinition
• Ressourcenkonflikte, z. B. Bauplatzreservierungen und -sperrungen
• Unklarheiten in den Konstruktionsunterlagen
Diese Störungen verursachen Nacharbeit, Klärungsaufwand und Wartezeiten. Ein gutes Störungsmanagement hilft dabei, Liefertermine einzuhalten und die Produktqualität zu sichern sowie Ausschuss und Nacharbeit zu reduzieren.
Die Unikatfertigung ist aus zwei Gründen besonders anfällig für Störungen:
1. Unikatprojekte erfordern das Zusammenspiel unterschiedlicher Gewerke, sodass viele Schnittstellen zwischen den Gewerken und zur Projektleitung entstehen. Eine Störung in einem Gewerk wirkt sich in vielen Fällen auf andere Gewerke sowie ggf. auf den gesamten Projektplan aus.
2. Verschiedene Unikatprojekte teilen sich in der Regel gleichzeitig dieselben Produktionsressourcen in Bezug auf die Gewerke und Bauplätze. Dies kann zu projektübergreifenden Störeffekten aufgrund von Ressourcenoder Platzmangel als Folge einer einzigen Störung führen.
Bild 1: Entity-Relationship-Modell des generischen Datenmodells (vereinfacht).
Potenziale digitaler Assistenzsysteme
Digitale Assistenzsysteme (im Folgenden abgekürzt DAS) für die Produktion sind Informationssysteme, die auf mobilen Geräten wie Tablets oder Handys genutzt werden. Sie dienen als Informationsquelle für Werker bei der Ausführung ihrer Arbeit. Studien zeigen, dass der Einsatz von Assistenzsystemen die Anzahl an Montagefehlern reduzieren und die Produktivität sehr deutlich verbessern kann [4].
Die wichtigsten Funktionalitäten von DAS für die Unikatfertigung sind [1, 4, 5]:
• Ein einfacher und schneller Zugriff auf produkt- und arbeitspaketbezogene Informationen wie das CAD-Modell des Produkts oder relevante Bauteile eines Arbeitspakets, Attribute wie Maße und Prozessparameter und digitale Dokumente, wie z. B. Datenblätter.
• Ein visueller Abgleich zwischen Ist-Zustand und Zielzustand mittels Augmented Reality (AR) oder anhand einer CAD-Visualisierung.
• Die aufwandsarme Dokumentation und Rückmeldung des Arbeitsfortschritts sowie von Unterbrechungen und Problemen in direktem Bezug zum aktuellen Arbeitspaket.
Darüber hinaus eignen sich DAS für das Störungsmanagement:
• Sie reduzieren den Dokumentationsaufwand: Die Dokumentation kann mit demselben Gerät und derselben Software erfolgen, die auch für wertschöpfende Tätigkeiten verwendet werden. Wichtige Dokumentationsinhalte lassen sich automatisch mithilfe der Tracking-Funktion der AR-Visualisierung (Standort) oder aus dem Arbeitspaket (Teilenummern betroffener Bauteile) ableiten.
• Sie genießen bei Werkern eine hohe Akzeptanz, weil sie sich durch eine hohe Verfügbarkeit und leichte Zugänglichkeit auszeichnen.
Vorgehen und Defizite im Störungsmanagement
Störungen werden entsprechend ihrer Tragweite unter Einbeziehung verschiedener Rollen behandelt. Kleinere Störungen kann ein Werker mit seinem Vorarbeiter lösen. Größere Störungen erfordern eine weitere Eskalation und beziehen übergeordnete Rollen ein. Unsere Beobachtungen zeigen, dass nach dem Auftreten einer Störung in der Regel die Ausführung eines Arbeitspakets durch einen Werker unterbrochen wird und die folgenden Aktivitäten durchgeführt werden:
1. Störungsmeldung durch einen Werker (Dokumentation)
2. Bewertung durch einen Vorarbeiter, einschließlich der Suche nach einer Lösung
3. Ggf. weitere Eskalation an den Projektleiter, um eine Lösung zu finden und eine Gegenmaßnahme zu beschließen
4. Mitteilung der Lösungsanweisung vom Vorarbeiter an den Werker und Durchführung der Gegenmaßnahme
5. Rückmeldung der ausgeführten Gegenmaßnahme vom Werker an den Vorarbeiter
Werker und Vorarbeiter gehören dabei demselben Gewerk an und können bereits mit einem DAS und einer gemeinsamen Datenbasis an der Störungsbehebung arbeiten. Es bestehen allerdings Defizite in der horizontalen und vertikalen Integration, die einem umfassenden Störungsmanagement mit DAS entgegenstehen:
Horizontale Integration. Andere Gewerke sind nicht hinreichend eingebunden. Das Hemmnis liegt darin, dass verschiedene Gewerke individuelle Anforderungen an die visuelle Darstellung von Störungsinformationen haben, wie z. B. die Kennzeichnung von Informationsfeldern auf der Grundlage eines gewerk- oder prozessspezifischen Ausdrucks. Außerdem benötigen die Gewerke unterschiedliche Attribute und Kategorien, um Störungen zu dokumentieren.