Der Intelligente Logistikraum: Neue Gestaltungsformen im Kontext der digitalen Transformation

Fabian Behrendt, Niels Schmidtke, Elke Glistau und Margarete Wagner

Die digitale Transformation der Industrie hat mit ihren technologischen Komponenten einen unmittelbaren Einfluss auf die Ausrichtung der Logistikprozesse innerhalb von Unternehmen sowie in ganzen Unternehmensnetzwerken. Die Entwicklung und Integration neuer Technologien löst dabei mehr und mehr starre Unternehmensstrukturen und Steuerungsarchitekturen auf. Die Vision reicht von dezentralen Netzwerken aus modularer Förder- und Lagertechnik bis hin zur Anwendung von Künstlicher Intelligenz für smarte Services in der Logistik. Es besteht die Anforderung, die logistischen Objekte zu identifizieren, zu orten, zu steuern und deren Zustände zu erfassen, um eine zielorientierte Interaktion im Sinne einer ganzheitlichen Vernetzung zu bewerkstelligen.
 

Industrie- und Handelsunternehmen stehen in diesem Hinblick hohe Investitionskosten gegenüber, wodurch eine vollständige Implementierung von Technologiekonzepten i. d. R. nicht in einem Zug stattfindet [1]. Es entsteht oftmals die Situation, dass Unternehmen existierende Anlagen und Prozesse sukzessiv anpassen, ergänzen oder ersetzen. Folglich findet in Arbeitsräumen ein Zusammenspiel unterschiedlicher Ausprägungen von Automatisierung und Digitalisierung statt, sodass bspw. agentenbasierte, autonome Transporteinheiten neben einfachen Flurfördergeräten mit oder ohne elektrischem Antrieb im innerbetrieblichen Materialtransport zum Einsatz kommen. Es treffen Cyber-Physische Systeme (CPS), deren Aktionen auf Algorithmen und Datenstrukturen basieren, im Verbund auf menschliche, emotionale Entscheidungs- und Handlungsweisen. Diese Mensch-Technik-Organisation gilt es so zu gestalten, dass eine funktionierende Arbeitsumgebung entsteht, indem unterschiedliche technische Einrichtungen und der Faktor Mensch bedarfs- und situationsgerecht direkt miteinander interagieren. Dabei führen die direkten und indirekten Einflüsse von technologischen Entwicklungen sowie der ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Treiber dazu, dass die Logistik im Kontext der voranschreitenden Digitalisierung und Informatisierung als besondere Anwendungsdomäne sowie Entwicklungsinstanz für neue Technologien, Methoden und Mehrwertdienste zählt [2]. Für eine erfolgreiche Umsetzung ist es daher erforderlich, geeignete Technologiekonzepte und Methoden zu entwickeln und zu nutzen, sodass bezogen auf die Logistik anforderungsgerecht und situativ gehandelt werden kann. An dieser Stelle findet der Intelligente Logistikraum (ILR) seinen Ansatz [3], ein Konzept, welches auf ein zielorientiertes Zusammenwirken von logistischen Systemen, Prozessen, Objekten und den beteiligten logistischen Infrastrukturen abzielt.

 


Bild 1: Entwicklungsbausteine des Intelligenten Logistikraums (Beispiele).

Ausrichtung der Logistik im Zuge der Digitalisierung

Die digitale Transformation birgt ein hohes Innovationspotenzial für die digitale Logistik. Mit der dezentralen Vernetzung und der Planung der Interaktion von logistischen Einheiten können Intelligente Logistikräume zur ganzheitlichen Prozessbetrachtung definiert werden [4], in denen sich neue Möglichkeiten bei der Gestaltung von (teil-)automatisierten bis autonomen Logistiklösungen eröffnen. Die im Bild 1 dargestellten Entwicklungsbausteine stellen einen Überblick über mögliche technologische und organisatorische Ausprägungen der Logistik dar. Bezogen auf die logistische Infrastruktur kommt es durch die Globalisierung zu einer weltweiten Verteilung der Logistik- und Produktionsstandorte, dessen Voraussetzungen eine vernetzte, bedarfsorientierte Ressourcenplanung und -steuerung sind. Die Komplexität der Kundenanforderungen erfordert eine flexible Ausrichtung logistischer Prozesse und eine offene Kommunikation entlang der gesamten Supply Chain, realisierbar durch entsprechende Operationsplattformen (z. B. IT-Cloudinfrastrukturen als Integrationsplattformen für verteilte CPS). Die Einführung neuer Technologien im Sinne der Industrie 4.0 führt zur Automatisierung und Autonomisierung der Produktions- und Logistikprozesse, die gleichzeitig eine Steigerung der Komplexität auf der Steuerungsebene nach sich ziehen. Zunehmend werden die Potenziale einer Dezentralisierung der Entscheidungsfindung bis hin zu einer selbstorganisierenden, selbstlernenden Steuerungsalgorithmik der logistischen Operatoren diskutiert [5]. Die Lokalisierung von logistischen Objekten gehört längst zur Regel in Prozessketten, mehr und mehr ist die Kombination zur (prädiktiven) Erkennung des Objektverhaltens und Anpassung der Zustandsgrößen ein entscheidender Erfolgsfaktor [6]. Im Sinne des Intelligenten Logistikraums können die genannten Entwicklungen entlang der unterschiedlichen Einsatzbereiche (Lagermanagement, Tourenplanung, Supply Chain Management, etc.) die notwendige Lösung für Effizienzgewinne sein. Mittels der genannten Kriterien, System, Prozess, Objekt und Infrastruktur lässt sich über die dargestellte Systematik die Ausgestaltung des Intelligenten Logistikraums unternehmensspezifisch im Detail ausführen. Die Herausforderung liegt darin, das richtige und notwendige Maß an Intelligenz und Autonomie im Gesamtkonzept zu bestimmen. Der Intelligente Logistikraum, als Lösungsmethodik, definiert an diesen Stellen den Lösungsraum und eruiert ein zielorientiertes Ergebnis.
 


Bild 2: 8 Richtige der Logistik in Zusammenhang mit den
Technologien und Methoden der digitalen Transformation.

Der Intelligente Logistikraum: Intelligente Lösungen durch Vernetzung

Logistik als Dienstleistung befriedigt Kundenanforderungen. Spitzenkennzahlen der Logistik betreffen den Erfüllungsgrad der Kundenanforderungen (Effektivität) und deren nachhaltige, wirtschaftliche Ermöglichung (Effizienz). Ziel ist es, einen Logistikraum zu schaffen, welcher bedarfsgerecht entsprechend der vorherrschenden Anforderungen sowie situativ entsprechend der jeweiligen Zustände, sich selbst und seine Umwelt wahrnehmen und Handlungsentscheidungen ableiten kann. Die häufig genannten, klassischen Leistungskennzahlen der Logistik (z. B. Lieferzuverlässigkeit, -qualität, -flexibilität, -fähigkeit) [7] können dabei mit der digitalen Transformation durch weitere Betrachtungsaspekte geeignet ergänzt werden (z.B. Resilienz, Adaptivität, Skalierbarkeit). Dies betrifft für den Logistiker z.B. die direkte Bewertung der Leistung von logistischen Prozessen und Systemen sowie die explizite Betrachtung weiterer relevanter Aspekte wie z.B. die Resilienz (Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen) und die Adaptivität (Anpassungsfähigkeit an das volatile Umfeld).

Auf die Logistik wirken im Kontext der Industrie 4.0 eine Vielzahl von Einflüssen, wodurch die Komplexität und Dynamik der beteiligten Prozesse sowie dessen Koordinationsumfang und -intensität zunehmen [8]. Jedoch bleiben die Kernaufgaben der Logistik erhalten. Für deren Beschreibung wird u. a. insbesondere das Modell der „Richtigen der Logistik“ genutzt, welches je nach Autor vier bis acht und mehr Betrachtungsaspekte enthält [9,10,11]. Für eine detailliertere Analyse an Anforderungen, welche der Logistik bei der Verrichtung ihrer Kernaufgaben im Zuge der digitalen Transformation gegenüberstehen, werden die „Richtigen der Logistik“ in einer erweiterten Sichtweise betrachtet und entsprechende Ausprägungen abgeleitet.
Bild 2 zeigt ein modifiziertes „Richtige der Logistik“-Modell, welches exemplarisch die Verbindung zwischen dem betrachteten Aspekt der logistischen Aufgabe und möglichen Technologien und Methoden der digitalen Transformation zeigt. Deren Vielzahl eröffnet den Lösungsraum für viele einzelne digitale Verbesserungen. Sie zeigen aber auch gleichzeitig, dass viele heute bereits als „intelligent“ bezeichneten Lösungen von Objekten z. B. von intelligenten Teilen, intelligenten Verpackungen, intelligenten Behältern, intelligenten Paletten und intelligenten Containern und Beispielen der Cyber-Physischen Systeme nur wenige Aspekte betreffen und erst wenige relevante Technologien der digitalen Transformation implementieren. Dies betrifft z. B. die Identifikation und wenige Zustände, die bereits erfasst und gespeichert werden. Unberücksichtigt bleiben derzeit die unmittelbare Beeinflussung von weiteren logistisch relevanten Zuständen, die Kommunikation, die dezentrale Entscheidungsfindung, das Datenmanagement und die Aktorik (z. B. Controller, Klemm- und Bremselemente, Verteiler).
 


Bild 3: Vorgehensmodell des Intelligenten Logistikraums mit neuen Aspekten.

Der Intelligente Logistikraum:  Methodisches Konzept

Um diese Anforderungen zukünftig auch wirtschaftlich umzusetzen, bedarf es neuer Ansätze und Methoden, um logistische Prozesse analysieren, bewerten, planen, steuern und regeln zu können. Klassische Methoden kommen hier sukzessive an ihre Grenzen. Neben dem Zusammenwirken von logistischen Objekten, Prozessen und Systemen sind nun zunehmend die beteiligten (logistischen) Infrastrukturen von Interesse. Diese liefern durch ihre Ausstattung mit Sensorik und Kommunikationstechnologie neue Informationsquellen und -wege, die zunehmend mit Cyber-Physischen Systemen, wie z. B. zellularen Transportsystemen, interagieren.

An dieser Stelle setzt der Ansatz des Intelligenten Logistikraums an, der eine Herangehensweise und ein Methodenportfolio bereitstellt, um die Anforderungen durch die digitale Transformation in bestehende Logistikkonzepte zu identifizieren und zu integrieren [2]. Dabei geht es primär nicht darum, zwangsläufig der Digitalisierung freien Raum zu lassen und z. B. mit maschinellen Lernalgorithmen möglichst alle zur Verfügung stehen Daten auszuwerten und zu interpretieren, sondern gezielt darum, über ein Vorgehensmodell (Bild 3) festzustellen, an welchen Stellen der logistischen Kette Handlungsbedarf (I. Abgrenzung) besteht. Hierbei werden spezifische Zielstellungen im Sinne einer individuell geforderten Logistikleistung und unter Beachtung der technologischen und organisatorischen Gegebenheiten formuliert. Dazu werden Logistikräume (II. Analysephase) durch die Analyse der Merkmalsstruktur der logistischen Betrachtungsebenen (System, Prozess, Objekt, Infrastruktur) und deren Zielkonflikte identifiziert und aufgespannt. Die Sicht erfolgt dabei sowohl aus der physischen (Material, Maschine, Prozess) und informationstechnischen (Daten) als auch der energetischen und finanziellen Perspektive. Eine Technologiemorphologie (III. Konzeptionsphase) zeigt Möglichkeiten, um Logistiklösungen zu verändern, neu zu kombinieren oder zu entwickeln als auch Best-Practise-Lösungen anzuwenden oder bestehende Lösungen zu digitalisieren. Durch die Erstellung eines digitalen Modells (virtuelle Demonstrationsumgebung) werden die Leistungskennzahlen der Logistik inkl. der neuen Bewertungsgrößen Resilienz, Adaptivität und Skalierbarkeit nach festgelegten Zielkriterien optimiert (IV. Bewertungsphase). Im Anschluss erfolgt dann die prototypische Umsetzung und Implementierung der geänderten Komponenten in die Praxisanwendung (V. Konfiguration-/VI. Realisierungsphase). Nach der erfolgreichen Testphase kann der Serienbetrieb eingeführt und eine Steuerung und Regelung der Wirkungsabläufe und Rückkopplungen durch das digitale Modell validiert werden (VII. Betrieb). Das Vorgehensmodell versteht sich hierbei als Kreislaufmodell, welches durch einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess verankert wird, um mittel- bis langfristig die Zielstellung umzusetzen.

In der Anwendung kann der Intelligente Logistikraum beliebige Referenzproblemstellungen der Logistik in einer Test- und Demonstrationsumgebung darstellen. Anwendungsfelder sind z. B. die (intra-)logistischen Prozesse von produzierenden Unternehmen, Verteilknoten oder Logistikhubs, in denen aktuell in Form von Forschungsprojekten die Konzeptweiterentwicklung und -plausibilisierung durchgeführt werden. Konkret werden am Beispiel von Flughäfen und Häfen die Potenziale von IoT-Lösungen im Kontext Logistik und Management von Betriebsmitteln untersucht. In der virtuellen Testumgebung werden vernetzungsfähige Technologien zur Aktivitätsanalyse von Ground Support Equipment (GSE) für einen Soll-Prozess ausgewählt und die Wandlungsfähigkeit des Logistikraums erprobt. Der beschriebene technologiebasierte Lösungsansatz dient dabei dazu, den geringen Vernetzungsgrad der logistischen Prozesse aufzuheben und technische Insellösungen zu vermeiden. Weiterhin ist das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg unter Verwendung des Innovation Center für Digitale Infrastruktur, Mobilität und Logistik (Galileo Testfeld Sachsen-Anhalt) [12] dabei, ein übergreifendes Praxisszenario zu entwickeln, das die Anwendbarkeit des theoretischen Modells untermauert.

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Schlüsselwörter:

Intelligenter Logistikraum, Logistik 4.0, neuartige Methoden

Literatur:

[1] Helmke, B.: Digitalisierung der Logistik. In: Hartel, D., H. (Hrsg): Projektmanagement in Logistik und Supply Chain Management. Wiesbaden 2019, S. 183f.
[2]  ten Hompel, M.; Henke, M.: Logistik 4.0 – Ein Ausblick auf die Planung und das Management der zukünftigen Logistik vor dem Hintergrund der vierten industriellen Revolution. In: Vogel-Heuser, B.; Bauernhansl, T.; ten Hompel, M. (Hrsg): Handbuch Industrie 4.0. Berlin Heidelberg 2017, S. 247-250
[3]  Behrendt, F.; Poenicke, O.; Schmidtke, N.; Richter, K.: The Smart Logistics Zone as an enabler of Value-added services in the context of Logistics 4.0. ISSL Symposium der BVL 2018.
[4]  Schenk, M.; Richter, K.; Behrendt, F.; Assmann, T.: Innovation digitale Logistik – neue Anwendungspotentiale im intelligenten Logistikraum. In: Wolf-Kluthausen, Hanne (Hrsg): Jahrbuch Logistik 2015. Korschenbroich, free Beratung, 2015, S. 12-16.
[5]  Gronau, N.; Theuer, H.: Potenziale autonomer Technologien in Produktion und Logistik. In: Siepermann, C.; Eley, M.: Logistik gestern, heute, morgen.  Berlin 2011, S. 270-272.
[6]  Richter, K.; Poenicke, O.; Kirch, M.; Nykolaychuk, M.: Logistiksysteme. In: Schenk, M. (Hrsg): Produktion und Logistik mit Zukunft. Berlin Heidelberg 2015, S. 246 - 250.
[7]  Muchna, C; Brandenburg, H.; Fottner, J.; Gutermuth, J.: Grundlagen der Logistik – Begriffe, Strukturen und Prozesse. Wiesbaden 2018. S. 70-73
[8]  Göpfert, I.: Logistik der Zukunft – Logistics for the Future. Wiesbaden 2016. S.320
[9]  Illés, B.; Glistau, E.; Coello Machado, N.: Logistik und Qualitätsmanagement. University of Miskolc, Hungary 2007, S. 4
[10] Schenk, M.; Wirth, S.; Müller, E.: Factory Planning Manual. Berlin, Heidelberg 2010, S. 226.
[11] Hausladen, I.: IT-gestützte Logistik. Wiesbaden 2016, S. 4
[12] Galileo Testfeld Sachsen-Anhalt. URL: www.galileo.ovgu.de, Abrufdatum 15.03.2019.