Bionic Smart Factory 4.0 - Konzept einer Fabrik zur additiven Fertigung komplexer Produktionsprogramme

Claus Emmelmann, Markus Möhrle, Mauritz Möller, Jan-Peer Rudolph und Nikolai D’Agostino

Aktuelle Entwicklungen erfordern zunehmend komplexere Produktionsprogramme. Die Kombination von additiver Fertigung und Industrie 4.0 ermöglicht neue Ansätze, die eine wirtschaftliche Fertigung jener erst ermöglichen. Die Bionic Smart Factory 4.0 gibt diesen Elementen einen Ordnungsrahmen und beschreibt sie hinsichtlich ihrer Anordnung und ihres Zusammenspiels. Die Wirkungsweise wird durch eine Beurteilung gegenüber Determinanten der Produktionsprogramme erläutert.

Bedarf einer Fabrikarchitektur für komplexe Produktionsprogramme

Verschiedene Trends sorgen für eine Veränderung der Nachfrage nach industriellen Produkten mit entsprechender Auswirkung auf die Produktionsprogramme, die in der Fabrikarchitektur reflektiert sein müssen. Dazu zählen insbesondere eine zunehmende Nachfrage nach individualisierten Produkten und verkürzte Produktlebenszyklen. Durch die weltweite Vernetzung der Wertschöpfung fallen diese Bedarfe global an. Der Drang nach weiterer Effizienzsteigerung und Innovation für Funktionsbauteile und Produkte erfordert Komponenten mit zunehmender geometrischer Komplexität.
Komplexe Geometrien zur Effizienzsteigerung von mechanischen, thermodynamischen, fluiden oder pneumatischen Systemen werden etwa zur Gewichtseinsparung unter Verwendung optimierter, bionischer Konstruktionsprinzipien [1] und zur Kostensenkung in Einspritzdüsen für das GE LEAP-Triebwerk eingesetzt [2]. Der global verteilten Fertigung von Ersatzteilen mit additiven Fertigungstechnologien wird ausgewählten Ersatzteilsegmenten in der Luftfahrt- [3], Automobil- und Maschinenbauindustrie Potenzial beigemessen. Auch eine wachsende Nachfrage nach individuellen Gütern oder das Anfertigen von Prototypen und Werkzeugen führen zu Variantenkomplexität. In Einsatzfällen der Ersatzteilversorgung und des Prototypen- und Werkzeugbaus liegt zusätzlich die Anforderung kurzer Durchlaufzeiten vor.
Zur Fertigung der beschriebenen Produktionsumfänge werden zunehmend additive Fertigungsverfahren eingesetzt oder bezüglich ihres Einsatzes evaluiert [4]. Allerdings sind die derzeitig zur Fertigung eingesetzten Verfahren meist mit Einschränkungen verbunden. So führen die geringe Fertigungsgeschwindigkeit sowie hohe manuelle Aufwände zu hohen Produktkosten. Medien und Formatbrüche in der digitalen Prozesskette erschweren die Ausschöpfung der Produktivität entlang der gesamten additiven Wertschöpfung.
Der ungedeckte Bedarf nach wirtschaftlicher Fertigung dieser hinsichtlich Produktgeometrie, Variantenvielfalt, Durchlaufzeitanforderungen und geografischer Absatzverteilung komplexen Produktionsprogramme erfordert neue Ansätze, welche die vorhandenen Potenziale prozesskettenübergreifend ausschöpfen. Komplexe Produktionsprogramme können im Status quo nur eingeschränkt zielgerecht gefertigt werden. Variantenvielfalt erzeugt bei konventioneller Fertigung z. B. für die Erstellung von Fertigungsprogrammen und Werkzeugen sowie für Rüstvorgänge hohe Kosten und Durchlaufzeiten. Die additive Fertigung kann diese Unzulänglichkeiten zwar prinzipiell lösen, durch die derzeitig hohen manuellen Aufwände bei der Datenverarbeitung und bei mechanischen Arbeitsschritten entstehen aber noch hohe Aufwände.
Mit Blick auf die rasante Weiterentwicklung der Informationstechnologie sowohl im Bereich der Hardware als auch der Software ergeben sich neue Möglichkeiten der Digitalisierung von Prozessen hin zu Cyber-Physischen Systemen. Die Bionic Smart Factory 4.0 (BSF 4.0) beantwortet diesen Bedarf durch Kombination von Industrie 4.0-Technologien und additiver Fertigung. Sie ist ein Anwendungskonzept für die ganzheitliche Verwendung von Industrial Big Data entlang einer datengetriebenen Prozesskette. Ausgehend von den digitalen Konstruktionsdaten wird bionische Optimierung vorgenommen und die Fertigung vorbereitet. Basierend auf in der Fertigung erfassten Daten und deren integrierter Analyse wird die Produktion dynamisch geplant und gesteuert und eine organische Erweiterung der Produktionskapazitäten ermöglicht.
 


Bild 1: Konzept der Bionic Smart Factory 4.0 (BSF 4.0).

Anwendungsbereich und Grundlagen

Komplexe Produktionsprogramme als Anwendungsbereich der BSF 4.0

Produktionsprogramme beschreiben die in einer Fabrik zu produzierenden Produkte hinsichtlich Art, Menge und Zeit sowie weiterer planungsrelevanter Merkmale [5] und kennzeichnen dadurch maßgeblich die Anwendungsfälle für eine Fabrik. Die oben genannten Trends führen zu komplexerer Produktgeometrie und einer steigenden Variantenkomplexität bei gleichzeitig kurzer Durchlaufzeitanforderung von der Auftragsauslösung bis zur Lieferung an den Kunden. Dies gilt insbesondere bei On Demand-Einsatzfällen, z. B. Prototypenbau und Ersatzteilversorgung. Kundenbedarfe liegen ferner global verteilt vor. Der Sachverhalt wird nachfolgend kurz als komplexes Produktionsprogramm zusammengefasst.

Grundlagen der additiven Fertigung

Additive Fertigungsverfahren gelten als ideal, um solche komplexen Produktionsprogramme zu fertigen, da sie besonders bei Produkten komplexer Geometrie und kleinen Stückzahlen ihren wirtschaftlichen Einsatz finden [4]. Dies liegt in ihrem Verfahrensprinzip begründet, bei dem Bauteile ohne spezifische Vorrichtungen Schicht für Schicht auf Basis von CAD-Daten gefertigt werden und Restriktionen konventioneller Verfahren (z. B. Werkzeugzugänglichkeit, Hinterschnitte) entfallen [6, 7]. Die Forderung nach kurzer Durchlaufzeit kann für endbearbeitete Bauteile aufgrund ihrer Prozesskette indes nur unter besonderen Bedingungen erzielt werden [3]. Um Bauteile in industrieüblicher Endqualität zu erreichen, wird eine Prozesskette durchlaufen, die aus den Phasen Pre-, In- und Post- sowie nachgelagerten Prozessen besteht [4, 8, 9]:
• Die Prozesskette beginnt mit vollständigen Produktmodellen, die neben der dreidimensionalen Produktgestalt auch zusätzliche technologische Information wie z. B. Toleranzen und Oberflächengüten enthalten.
• Der Pre-Prozess besteht sowohl aus datenseitiger Vorbereitung (für das selektive Laserstrahlschmelzen: Daten aufbereiten, Bauteilanordnungen festlegen und Stützstrukturen konstruieren; für Laserauftragschweißen: Aufbaustrategie festlegen und Anlagen programmieren) als auch aus der mechanischen Vorbereitung.
• Im In-Prozess wird der Auftrag gefertigt und – bei pulverbettbasierten Verfahren – Pulver und Plattform entfernt.
• Der Post-Prozess und die nachgelagerten Prozesse umfassen die notwendigen Schritte, um die gewünschte Endqualität der Bauteile zu erreichen, und können sich der Bandbreite an Fertigungsverfahren [10] bedienen.

Industrie 4.0 als Voraussetzung für Wirtschaftlichkeit im gegebenen Kontext

Industrie 4.0 beschreibt die Vernetzung der Produktion mit Informations- und Kommunikationstechnologie auf Basis intelligenter, digital vernetzter Systeme [11]. Additive Fertigungsverfahren werden durch die direkte Verwendung von digitalen Konstruktionsdaten als idealer Fertigungsprozess unter Industrie 4.0-Gesichtspunkten gesehen [12]. Eine Smart Factory ist in diesem Zusammenhang eine Fabrik, deren Integrationsgrad eine Tiefe erreicht hat, die Selbstorganisationsfunktionen in der Produktion und in allen die Produktion betreff enden Geschäftsprozessen ermöglicht [13].
Zentraler Aspekt der BSF 4.0 ist die Bionik. Zum einen ermöglicht das Fabrikkonzept mit dem dezentralen Fertigungssystem ein organisches, sich äußeren Umständen anpassendes Wachstum der Fabrikstruktur. Zum anderen erlauben die hohen geometrischen Freiheitsgrade additiver Fertigungsverfahren die Optimierung der Konstruktion mittels bionischer Prinzipien.
Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) [14] definiert einen Ordnungsrahmen für die sog. Industrie 4.0-Verwaltungsschalen (Asset Administration Shell) [15] und wird als Bestandteil der BSF 4.0 verwendet.
 


Bild 2: Datensystem der BSF 4.0 (Smart Plattform).

Konzept der Bionic Smart Factory 4.0

Das Konzept der BSF 4.0 ist in Bild 1 dargestellt und adressiert den Bedarf nach einer Fabrikarchitektur für komplexe Produktionsprogramme als Bezugsrahmen zur Diskussion zukünftiger Wertschöpfung. Die BSF 4.0 deckt die Schritte der Wertschöpfung vom Kundenbedarf bis zur Ausgangslogistik ab und schließt die Interaktion mit Lieferanten ein. Es kann zwischen zwei Teilsystemen unterschieden werden: dem Datensystem und dem Fertigungssystem.
Das Datensystem ist Eingangspunkt für den Kundenbedarf und umfasst die Angebotskalkulation sowie den datenseitigen Pre-Prozess mit einer möglichen Optimierung der Konstruktion. Die Auftragsabwicklung ist ebenfalls Bestandteil des Datensystems. Die Elemente des Datensystems profitieren davon, dass die Datenhaltung und Verarbeitung zwar singulär erfolgt und damit nach einheitlicher Struktur und Regeln verarbeitet wird, der Zugriff jedoch dezentral geschehen kann.
Das Fertigungssystem umfasst die Eingangslogistik und die Fertigungsschritte vom mechanischen Pre-Prozess bis zur Ausgangslogistik. Diese Schritte können – auch in Verbünden von Prozesskettenteilen – in multiplen Fertigungsstätten ablaufen und erhalten somit einen dezentralen Charakter. Die Steuerung der Abläufe erfolgt aus dem Datensystem.
Die beschriebene Systemarchitektur entspricht einer Industrie 4.0-Lösung, da sie auf vertikaler und horizontaler Vernetzung der Wertschöpfungskette basiert. Erst die Kombination der beiden Teilsysteme erlaubt die wirtschaftliche Fertigung komplexer Produktionsprogramme. Eine Besonderheit der BSF 4.0 ist die Verwendung additiver Fertigungstechnologien im Fertigungssystem zusammen mit einem auf die Fertigungstechnologie ausgerichteten Datensystem. Im Folgenden werden die in Bild 1 dargestellten Bestandteile der BSF 4.0, untergliedert in Daten- und Fertigungssystem, im Detail vorgestellt.
 

Datensystem der Bionic Smart Factory 4.0

Das Datensystem verwendet Cloud-Computing, welches die Basis für ein Internet der Dinge und Dienste stellt. Es ermöglicht den ortsunabhängigen Zugang zu fertigungsbezogenen Dienstleistungen und Produktionsprozessen über das Internet. Das Datensystem bietet Schnittstellen zu Kunden, Lieferanten und den produzierenden Fertigungssystemen, die in verschiedenen Fabriken realisiert sein können. Es bildet die Softwareplattform, welche die verschiedenen dem Fertigungsprozess vorgelagerten Dienste integriert und miteinander verbindet (Smart Plattform) [16]. Im Kern lässt sich dieses in die fünf in Bild 2 dargestellten Module unterteilen, welche im Folgenden beschrieben werden.

Kundenschnittstelle

Die digitalisierte Kundenschnittstelle ermöglicht dem Kunden die direkte Abgabe von Fertigungsaufträgen über den Webbrowser. Das entwickelte Datensystem hat dazu eine webbasierte Benutzerschnittstelle, über welche Geometriedaten eines Bauteils hochgeladen werden können. Während des Dateiaustausches werden die Daten verschlüsselt (beispielweise mittels SSL) übertragen. Dies gilt auch für die weitere Kommunikation zwischen cloudbasierter Plattform, Nutzer und Fertigungssystemen. Nachdem das Bauteil hochgeladen wurde, werden automatisiert Fertigungsrestriktionen und Konstruktionsrichtlinien geprüft [17]. Diese Prüfung entscheidet darüber, ob das Bauteil in die weitere Fertigung gehen kann oder zunächst ein Redesign notwendig ist. Über die Plattform kann der Kunde jederzeit den aktuellen Status seines Auftrags einsehen.

(Potenzial-)Kalkulation

Dieses Modul des Datensystems umfasst sowohl eine automatisierte Angebotskalkulation als auch die Möglichkeit der Potenzialbewertung. Die Angebotskalkulation berechnet mittels analytischer und statistischer Kostenfunktionen basierend auf einer Analyse der Bauteilgeometrie automatisch einen Preis. Dieser Preis wird dem Kunden direkt über den Webbrowser angezeigt, der daraufhin eine Beauftragung auslösen kann. Ziel der Potenzialbewertung ist die Identifizierung von Bauteilen, für welche sich durch eine additive Fertigung wirtschaftliche Geschäftsfälle ergeben. Basis für die Potenzialbewertung ist ein automatisierter Kostenvergleich zwischen additiver Fertigung und konkurrierenden Fertigungsverfahren [18]. Zudem werden Potenziale von Bauteiloptimierungen, welche durch die hohen geometrischen Freiheitsgrade in der additiven Herstellung ermöglicht werden, berechnet.

Bionische Konstruktion und Optimierung

Bauteile, für welche hohe Potenziale (z. B. Gewichtsreduktion) durch eine Optimierung identifiziert werden konnten, werden in der Konstruktion neu gestaltet oder angepasst. Durch die hohen geometrischen Freiheitsgrade der additiven Fertigung können in diesem Zusammenhang bionische Strukturen in der Konstruktion genutzt werden [19]. Die Bionik überträgt Prinzipien der Natur auf technische Systeme [20]. Beispiele aus der Strukturbionik, welche bereits in der additiven Fertigung von Bauteilen Anwendung finden, sind rohr- und membranförmige Pflanzen- oder Knochenstrukturen (wie Bambus oder Vogelknochen). Neben mechanisch und topologieoptimierten Funktionen lassen sich aber auch andere physikalisch- technische Systeme mit schwingungs-, thermisch- oder auch fluidtechnischen Funktionen simulativ zu disruptiven bionischen Funktionsinnovationen optimieren.

Pre-Prozess (Daten)

Die Datenvorbereitung für die additive Fertigung ist im Stand der Technik ein manuell geprägter Prozess. Ein Ziel der BSF 4.0 ist daher eine möglichst automatisierte Datenvorbereitung über eine Cloudplattform. Darunter fallen insbesondere eine automatische Bestimmung der Bauteilausrichtung, die Festlegung von Supportstrukturen und die Zusammenstellung der Baujobs. Darüber hinaus werden ebenfalls vorbereitende Arbeiten für die Nachbearbeitung in diesem Prozessschritt durchgeführt (z. B. NC-Programmierung).
 


Bild 3: Manufacturing Service Bus zur Auftragsabwicklung in der BSF 4.0.

Auftragsabwicklung

Die Auftragsabwicklung begleitet die Fertigung des Bauteils vom Datensystem bis zum Verlassen des Fertigungssystems. Wesentliche Umsetzungskomponente der Auftragsabwicklung in der BSF 4.0 ist ein digitaler Zwilling des zu fertigenden Produkts [21]. Dieses digitale Abbild enthält sämtliche für den Lebenszyklus relevanten Daten. Im Laufe der Fertigung werden weitere Informationen, wie z. B. qualitätsrelevante Daten, im digitalen Zwilling gespeichert und eine lückenlose Dokumentation der Fertigung ermöglicht. Dies ist die Voraussetzung für den Einsatz additiv gefertigter Bauteile für qualifizierungspflichtige Anwendungen.
Die Produktionsplanung und -steuerung als Bestandteil der Auftragsabwicklung für die ortsverteilten Fertigungssysteme erfolgt ebenso über eine cloudbasierte Schnittstelle. Störungen oder Ausfälle in der Produktion werden an das Datensystem zurückgemeldet. Durch die singuläre, cloud-basierte Steuerung können Fertigungsaufträge flexibel umdisponiert werden. Die direkte Anbindung an Lieferanten (z. B. Pulverzulieferer) ermöglicht rechtzeitige Nachbestellungen auf Basis der aktuellen Produktionsplanung und Kapazitätsauslastung.
Der Manufacturing Service Bus wird als standardkonforme und offene Integrationsplattform entlang der Wertschöpfungskette eingesetzt. Die Beschreibung der Einzelprozesse durch evaluierte Prozessmodelle ermöglicht die Verwendung digitaler Zwillinge. Ein mögliches Mittel für die Umsetzung einer standardkonformen und offenen Integrationsplattform in Form eines Manufacturing Service Bus ist die Verwendung des Kommunikationsstandards OPC UA [22], der neben einem sicheren Kommunikationsstack auch Datenmodellierungsfunktionen zur Verfügung stellt (Bild 3). Um ein flexibles Zusammenspiel zwischen verschiedenen Cyber-Physischen Systemen zu ermöglichen, müssen diese über Mechanismen verfügen, ihre Eigenschaften und Fähigkeiten semantisch maschinenlesbar bereitzustellen (Manifest). Ein mögliches Mittel für einen solchen Mechanismus ist AutomationML, welches ein standardisiertes Austauschformat für die vollumfängliche Beschreibung von Produktionssystemen darstellt.

Fertigungssystem der Bionic Smart Factory 4.0

In-Prozess

Die additive Prozesskette ist auf Basis bestehender Forschungsergebnisse zu den Prozesseinflüssen auf die Qualitätsziele mathematisch beschreibbar und in einem digitalisierten Abbild vorhanden [23, 24]. Richtlinien und Algorithmen bilden die Grundlage der Produktentwicklung bzw. der automatisierten Fertigungsplanung. Sowohl die Einzelprozesse als auch ihre Kombination zu iterativen Prozessschritten sind innerhalb des Formats abgebildet und durch bauteilindividuelle adaptive Nachbehandlungsstrategien erweitert. Entsprechend der beschriebenen Kundendaten wird die zeit-, qualitäts-, und kosteneffiziente Anlagentechnik für das Produkt individuell ausgewählt. Zukünftige Herausforderungen sind, neben der Integration von innovativen Messsystemen, die Vergrößerung der Bauteildimensionen sowie die Steigerung der Produktivität.

Post-Prozess/nachgelagerte Schritte

Endeffektor-, Bauteileinmessung und Fehlervermeidung durch Monitoring sind für die Arbeit bei hohem Automatisierungsgrad und mit flexiblen Systemen zentrale Instrumente. Der Aufbau von Bauteilen in additiven Verfahren sowie die Kombination mit einem mechanischen bzw. zerspanenden Nachbearbeitungsverfahren bietet die Möglichkeit, das Zerspanvolumen gegenüber heutigen Fertigungsverfahren signifikant zu reduzieren. Dabei spielt die Möglichkeit der iterativen Verknüpfung der Kernprozesse eine zentrale Rolle. Wichtige Voraussetzungen für die Nachbearbeitung und den iterativen Prozess sind die Erfassung der Geometrie sowie das Sicherstellen der Position und Lage des Bauteils. Durch optische Erfassung der Bauteiloberfläche mit automatisierter Bauteilvorbehandlung wird ein digitales Abbild erstellt. Die Informationen lassen sich zur Referenzierung, Qualitätssicherung und Adaption der additiven Kernprozesse nutzen. Zur Sicherstellung der ermittelten räumlichen Lage über alle Prozessschritte wird darüber hinaus die Positionsinformation rekurrent für flexible und prozessübergreifende Bauteilspannsysteme genutzt.
 


Bild 4: Wirtschaftlichkeitspotenzial der BSF 4.0 zur Realisierung komplexer Produktionsprogramme
im Vergleich zu konventioneller Fertigung.

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend sei das Potenzial der beschriebenen Elemente zur Realisierung der oben beschriebenen, komplexen Produktionsprogramme beurteilt. Bild 4 zeigt die qualitative Beurteilung im Überblick und unterteilt in Elemente, die ihre Wirkung aus dem Gesamtsystem sowie dem Daten- und Fertigungssystem beziehen. Das angegebene Potenzial bezieht sich dabei auf Fertigung mit konventionellen Verfahren, deren Daten- und Fertigungssysteme nicht auf Industrie 4.0-Technologien basieren.
Das Gesamtsystem kann durch Entkopplung von bionischem Design und Prozess und der dadurch ermöglichten Auftragsverteilung im globalen Netzwerk die Durchlaufzeiten reduzieren und die globale Absatzverteilung besser bedienen. Durch die Entkopplung können Bedarfe global erfasst werden, ohne dass sich Nachteile aus fehlendem Produktionszugang (z. B. für Industrialisierungsschritte) für die Durchlaufzeit ergeben. Die Auftragsverteilung im globalen Netzwerk glättet die Auslastung und reduziert so die Durchlaufzeit bei zeitkritischen Aufträgen.
Die digitalisierte Kundenschnittstelle des Datensystems vereinfacht den Austausch von Auftragsdaten und unterstützt globale Kundenbeziehungen. Für geometrisch komplexe Produkte wird sichergesellt, dass ein vollständiges Produktmodell verfügbar gemacht wird. Hohe Variantenanzahlen verursachen durch elektronische Datenverarbeitung keinen Zusatzaufwand, was auch für die nachfolgende automatisierte (Potenzial-) Kalkulation gilt. Die Kalkulation von Designoptimierungspotenzialen ist gerade bei komplexen Produktgeometrien manuell sehr aufwendig, sodass die Automatisierung dort hohes Potenzial aufweist. Durch Vermeidung von Liegezeiten und manuellen Tätigkeiten sorgen beide Elemente für kurze Durchlaufzeit. Die Automatisierung der Designoptimierung und des Pre-Prozesses verringert den Einfluss von geometrischer und Variantenkomplexität als Aufwandstreiber und sorgt so für eine unabhängig kurze Durchlaufzeit. Gerade bei hoher Variantenzahl kann die Auftragsabwicklung durch Planung, wiederholte Zuordnung und Qualitätsdokumentation von Aufträgen/Produkten hohen Aufwand verursachen, dem durch Verwendung von digitalen Zwillingen entgegengewirkt werden kann. Der ortsunabhängige Zugriff auf das Datensystem ermöglicht erst in der Kundenschnittstelle die globale Absatzverteilung und erlaubt kurze Durchlaufzeiten, da internes Personal Bedienungs- und Steuerungsaufgaben ortsungebunden erledigen kann.
Das Fertigungssystem kann im In-Prozess erst durch die beschriebenen Digitalisierungsansätze wirtschaftlich ihre oben beschriebenen Einsatzvorteile entfalten. Entscheidend ist gleichsam die Automatisierung der Post-Prozesse, damit Skaleneffekte die Vorteile nicht wieder aufzehren. Multiple, dezentrale Einheiten unterstützen die globale Absatzverteilung. Neben den Transportzeitvorteilen sind auch die Vorteile relevant, die sich durch Unterstützung lokaler Verflechtungen zur Qualitätssicherung, Nutzung lokaler Infrastruktur und Zulieferer etc. ergeben. Eine besondere Rolle kommt der Eigenschaft additiver Fertigungsverfahren zu, direkt aus CAD-Daten zu fertigen: Geometrische Komplexität und kleine Stückzahlen können mit verhältnismäßig kurzer Durchlaufzeit gefertigt werden.
Die Fertigung komplexer Produktionsprogramme ist angewiesen auf die Verknüpfung eines singulären Datensystems mit multiplen, additiven Fertigungssystemen. Erst die Kombination beider Elemente entfaltet Wirtschaftlichkeitspotenzial für die Determinanten komplexer Produktionsprogramme. Um das beschriebene Konzept umzusetzen, sind weitere Forschungsaktivitäten nötig, die insbesondere auf die Entwicklung cloudbasierter Plattformlösungen, die Datendurchgängigkeit entlang der Prozesskette und eine weitere Standardisierung der Maschinenansteuerung abzielen.

Schlüsselwörter:

Produktionssysteme, Digitalisierung, Additive Fertigung, Planung/Management, Industrie 4.0

Literatur:

[1] Schmidt, T.: Potentialbewertung generativer Fertigungsverfahren für Leichtbauteile. Berlin 2016.
[2] Wohlers Associates, Inc.: Wohlers Report 2016 – 3D Printing and Additive Manufacturing State of the Industry. Annual Worldwide Progress Report. Fort Collins, USA 2016.
[3] Möhrle, M.; Bloempott, S.; Rissiek, J.; Emmelmann, C.: Potenziale additiver Ersatzteilfertigung in der Luftfahrtindustrie. In: ZWF 111 (2016) 12, S. 813-819.
[4] Möhrle, M.; Emmelmann, C.: Fabrikstrukturen für die additive Fertigung. In: ZWF 111 (2016) 09, S. 505-509.
[5] Helbing, K.: Handbuch Fabrikprojektierung. Berlin 2010.
[6] Kranz, J.; Herzog, D.; Emmelmann, C.: Design guidelines for laser additive manufacturing of lightweight structures in TiAl6V4. In: Journal of Laser Applications 27 (2015) S. 1-16.
[7] VDI Richtlinie 3405: Blatt 3 – Additive Fertigungsverfahren – Konstruktionsempfehlungen für die Bauteilfertigung mit Laser-Sintern und Laser- Strahlschmelzen. Berlin 2015.
[8] VDI Richtlinie 3405: Blatt 1 – Additive Fertigungsverfahren – Grundlagen, Begriff e, Verfahrensbeschreibungen. Berlin 2014.
[9] Grund, M.: Implementierung von schichtadditiven Fertigungsverfahren – Mit Fallbeispielen aus der Luftfahrtindustrie und Medizintechnik. Berlin 2015.
[10] DIN 8580: Fertigungsverfahren – Begriff e, Einteilung. Berlin 2003.
[11] Plattform Industrie 4.0: Was ist Industrie 4.0. URL: http:// www.plattform-i40.de/I40/ Navigation/DE/Industrie40/ WasIndustrie40/was-ist-industrie- 40.html, Abrufdatum 14.02.2017.
[12] Klemp, E.; Pottebaum, J.: Additive Fertigungsverfahren im Kontext von Industrie 4.0. In: Vogel-Heuser, B. u. a.: Handbuch Industrie 4.0, Band 3. Berlin 2017.
[13] VDI: Industrie 4.0 – Technical Assets. Grundlegende Begriff e, Konzepte, Lebenszyklen und Verwaltung, VDI Statusreport Industrie 4.0. 2015.
[14] ZVEI – Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie e.V.: Industrie 4.0: Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0). URL: http://www.zvei.org/Downloads/ Automation/ZVEI-Faktenblatt- Industrie4_0-RAMI- 4_0.pdf, Abrufdatum 15.02.2017.
[15] ZVEI - Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie e.V.: Industrie 4.0: Die Industrie 4.0-Komponente. URL: http://www.zvei.org/ Downloads/Automation/Industrie% 204.0_Komponente_ Download.pdf, Abrufdatum 15.02.2017.
[16] Rudolph, J.-P.; Emmelmann, C.: A Cloud-based Platform for Automated Order Processing in Additive Manufacturing. In: Proceedings of the 50th CIRP Conference on Manufacturing Systems. Taichung, Taiwan 2017.
[17] Rudolph, J.-P.; Emmelmann, C.: Analysis of Design Guidelines for Automated Order Acceptance in Additive Manufacturing. In: Proceedings of the 27th CIRP Design Conference. Cranfield, UK 2017.
[18] Rudolph, J.-P.; Emmelmann, C.: Towards an Automated Part Screening for Additive Manufacturing. In: Proceedings of the 6th International Workshop on Aircraft System Technologies AST. Hamburg 2017.
[19] Emmelmann, C.; Sander, P.; Kranz, J.; Wycisk, E.: Laser Additive Manufacturing and Bionics: Redefining Lightweight Design. In: Physics Procedia 12 (2011), S. 364 – 368.
[20] Nachtigall, W.: Bionik: Grundlagen und Beispiele für Ingenieure und Naturwissenschaftler, 2. Auflage. Berlin 2002.
[21] Boschert, S.; Rosen, R.: Digital Twin – The Simulation Aspects. In: Hehenberger, P.; Bradley, D.: Mechatronic Futures. Berlin 2017.
[22] Damm, M. u. a.: OPC Unified Architecture. Berlin 2009.
[23] Möller, M.; Ewald, A.; Weber, J.; Heilemann, M.; Herzog, D.; Emmelmann, C.: Characterization of the Anisotropic Properties for Laser Metal Deposited Ti-6Al-4V. In: Journal of Laser Applications 29:2 (2017)
[24] Möller, M.; Herzog, D.; Wischeropp, T.; Emmelmann, C.; Krywka, C.; Staron, P.; Munsch, M.: Analysis of Residual Stress Formation in Additive Manufacturing of Ti- 6Al-4V, Materials Science and Technology. Salt Lake City, 2016.