Auswahl von Manufacturing Execution Systems/Advanced Planning and Scheduling Systems
Teil 2: Grundlagen einer Systemauswahl - vom Anforderungskatalog zur Feinauswahl

Ronny-Alexander Koch, Thomas Rücker, Herfried M. Schneider und Sören Stodt

Spezielle Softwaresysteme zur Produktions-Feinplanung – Manufacturing Execution Systems oder Advanced Planning & Scheduling Systems – unterstützen die operative Produktionsplanung und -steuerung in Industriebetrieben. Die Vielzahl der am Markt angebotenen Systeme macht einen fundierten Auswahlprozess von der Anforderungserhebung bis zur Endauswahl notwendig. Ein umfassendes Modell, das diesen Prozess systematisch unterstützt und vereinfacht, ist Gegenstand des folgenden Beitrags. Die Methodik geht über eine fragebogenbasierte Abfrage hinaus und überprüft die Systemfähigkeiten mithilfe von strukturierten Fallstudien. Im ersten Teil des Beitrags [1] wurden die Prozessschritte von der Erhebung der Anforderungen an das System bis zu deren Strukturierung in einem Anforderungskatalog beschrieben. Der nachfolgende zweite Teil umreißt die Prozessschritte von der System-Grobauswahl bis hin zur System-Feinauswahl.

Im ersten Teil des Beitrags [1] wurde eine Methodik zur Klassifikation des jeweiligen Produktionssystems, zur Anforderungserhebung und zur Erstellung eines Anforderungskatalogs vorgestellt. Der vorliegende zweite Teil beschreibt darauf aufbauend eine Methodik zur Überprüfung und objektiven Bewertung der Systemfähigkeiten mit anschließender System-Feinauswahl. Durch die Nutzung der hier vorgestellten Methodik werden in überschaubarer Zeit die Voraussetzungen und Fähigkeiten für das komplexe Bewertungs- und Entscheidungsproblem zur Auswahl eines Feinplanungssystems geschaffen. Dabei kann auf die im Beitrag dargestellten Werkzeuge zurückgegriffen werden. Diese umfassen u.  a. den Leitfaden für die Live-Demonstrationen, das mathematische Bewertungsmodell, das auf die Erfüllung von Softwarenanforderungen zugeschnitten ist, und die weiteren praktischen Handlungsempfehlungen für die Schattenplanung und die Referenzkundenbesuche.

Die Methodik ist in den Auswahlprozess, der bereits im ersten Teil des Beitrags vorgestellt wurde, integriert und umfasst die Schritte von der Grobauswahl bis hin zur Auswertung der Ergebnisse und Feinauswahl (Bild 1).
 

Grobauswahl

Die auf dem Anforderungskatalog basierende Grobauswahl muss die Vielzahl angebotener Softwaresysteme auf eine überschaubare Anzahl reduzieren. Für einen ersten Überblick bieten sich die periodisch veröffentlichten Marktspiegel bzw. Marktübersichten [2] mit ihren summarischen Angaben zum Funktionsumfang der Systeme an. Für die Feinplanung sind vor allem die folgenden drei Funktionsbereiche relevant, die wiederum jeweils mehrere Einzelanforderungen abdecken:
•    Personaleinsatzplanung
•    Produktionsplanung
•    Produktionssteuerung
Aufgrund des Abstraktionsgrades von Marktspiegeln ist i. d. R. nicht erkennbar, in welcher Qualität Einzelanforderungen durch die Systemfunktionalität erfüllt werden.
Für die Grobauswahl lässt sich vorerst die Anforderungserfüllung mit 1 oder 0 – erfüllt/nicht erfüllt – bewerten. Mithilfe der Summe der Bewertungen innerhalb der relevanten Funktionsbereiche kann nunmehr eine Rangfolge der Systemanbieter hinsichtlich der Anforderungserfüllung gebildet werden. Die zwölf bis fünfzehn Anbieter, die nach eigenen Angaben die meisten Anforderungen erfüllen können, werden in den weiterführenden Auswahlprozess einbezogen.
 


Bild 1: Übersicht Auswahlprozess.

Evaluation der Anbieterangaben

Zur Vertiefung dieser Grobauswahl ist eine Beurteilung der Qualität der Anforderungserfüllung erforderlich. Dazu werden die in die weitere Analyse einbezogenen Systemanbieter gebeten, den Erfüllungsgrad einer jeden Anforderung mittels vier Bewertungsmöglichkeiten zu definieren.
Jede Anforderung i (Laufvariable für Anforderungen des Anforderungskatalogs) wird mit einer Punktzahl (w) bewertet:
Die Erfüllung einer Anforderung i ist 1. derzeit nicht möglich. ( wi =0 Punkte) 2. möglich, erfordert eine Softwareanpassung. ( wi =1 Punkt) 3. möglich, noch nicht bei einem Kunden implementiert. ( wi =3 Punkte) 4. möglich und bereits bei einem Kunden implementiert. ( wi =3 Punkte)
Die Bewertungsmöglichkeiten drei und vier sind trotz gleicher Punktzahl voneinander zu
differenzieren. Anforderungen, die mit dem Erfüllungsgrad drei bewertet wurden, sollten im Rahmen der Fallstudie näher untersucht werden, da deren Erfüllung in der Praxis noch nicht erprobt wurde.
Die Bewertung aller angegebenen Erfüllungsgrade im Anforderungskatalog für alle ausgewählten Systemanbieter schließt den ersten Teil der Bewertung ab.
Da der Erfüllungsgrad zu einer Anforderung im Lastenheft von System zu System variiert, wird die Variable wi im Folgenden um einen Systemindex s auf wis erweitert.
Bild 2 fasst die Schritte zur Evaluation der Anbieterangaben schematisch und vereinfacht zusammen.
Sollte ein System eine „Muss-Anforderung“, wie in Teil 1 des Beitrags beschrieben, nicht vollumfänglich erfüllen können (Bewertung kleiner als 3 Punkte), wird dieses System aus dem weiteren Auswahlprozess ausgeschlossen.
 


Bild 2: Bewertungsmodell, Teil 1: Evaluation der Anbieterangaben.

Verifizierung der Anbieterangaben

Im zweiten Teil der Bewertung werden die Anbieterangaben mithilfe einer strukturierten Fallstudie verifiziert. Dadurch sollen potenzielle Fehler sowie Unter- bzw. Überbewertungen bei der Einschätzung der Systemfähigkeiten seitens der Anbieter reduziert bzw. vermieden werden.
Gleichzeitig kann dabei Einsicht in die jeweilige Umsetzung charakteristischer Eigenschaften der die Produktions-Feinplanung adressierenden Softwaresysteme – Manufacturing Execution Systems oder Advanced Planning & Scheduling Systems – genommen werden, bspw. in die transparente Darstellung der Produktionsabläufe im System oder in die Fähigkeiten der Echtzeitplanung.
Je nach Umfang des Anforderungskatalogs und verfügbarer Zeit können häufig nicht alle Anforderungen im Rahmen der Fallstudie verifiziert werden. Eine Vorauswahl sollte sich daher auf solche Anforderungen konzentrieren,
•    die eine hohe Relevanz aufweisen.
•    die im Anforderungskatalog mit Antwortmöglichkeit 3 bewertet wurden.
•    bei denen die im Anforderungskatalog dargestellten Lösungsansätze nicht nachvollziehbar sind.

Es ist sinnvoll, die Fallstudie in mindestens drei inhaltliche Abschnitte zu untergliedern:
1. Fähigkeit des untersuchten Systems, ein Produktionssystem abbilden zu können;
2. Anforderungen an die Planung vor dem Hintergrund eines Auftragsdurchlaufs;
3. Lösungsansätze zu spezifischen Planungsproblemen mit hoher Komplexität.

Zur Strukturierung sollten jedem Abschnitt mehrere Leitfragen zugeordnet werden, die die wesentlichen Anforderungen spezifizieren. Durch die Beantwortung der Leitfragen und weitergehende kritische Nachfragen können die zugeordneten Anforderungen verifiziert werden. Durch dieses Vorgehen wird es möglich, das System auch über die gestellten Anforderungen hinaus kennen zu lernen.

Um die einzelnen Anforderungen angemessen bewerten zu können, ist eine aktive Beteiligung – in Form von kritischen Verständnisfragen bei Unklarheiten – im Verlauf der Fallstudie notwendig. Diese Beteiligung kann durch die Teilnahme von Experten und späteren Anwendern aus unterschiedlichen Fachabteilungen gefördert werden. Eine exemplarische Agenda für eine Fallstudie – einschließlich beispielhafter Leitfragen – ist in Bild 3 dargestellt.

Die Verifizierung des Erfüllungsgrades der Anforderungen j (Laufvariable für Anforderungen, die in der Fallstudie verifiziert werden) erfolgt mithilfe des Bewertungsfaktors bjs auf Basis der Erkenntnisse aus der Fallstudie, wobei s generell die Laufvariable für das untersuchte System darstellt.
Für Anforderungen, deren Erfüllungsgrad zuvor mit drei Punkten ( wjs =3) bewertet wurde, gilt Folgendes.
Die Erfüllung einer Anforderung j:
1. ist nicht glaubhaft oder ist nicht ohne erheblichen Anpassungsaufwand vorstellbar ( bjs =0).
2. weicht stark vom Kern der Anforderung ab bzw. es bestehen erhebliche Zweifel, ob die Anforderung vollumfänglich erfüllt werden kann. Lediglich Lösungsansätze sind vorhanden ( bjs =1/3).
3. ist möglich, weicht jedoch leicht vom Kern der Anforderung ab bzw. es bestehen leichte Zweifel, ob die gewünschte Anforderung vollumfänglich erfüllt werden kann ( bjs =2/3).
4. wurde vollumfänglich demonstriert oder lässt sich aus den demonstrierten Funktionen nachvollziehbar ableiten ( bjs =1).
Für Anforderungen, deren Erfüllungsgrad zuvor mit einem Punkt ( wjs =1) bewertet wurde, gilt Folgendes.

Die Erfüllung einer Anforderung j:
1. ist nicht glaubhaft oder ist nicht ohne erheblichen Anpassungsaufwand vorstellbar ( bjs =0).
2. ist glaubhaft und mit geringem Anpassungsaufwand vorstellbar ( bjs =1).

Die Bewertung einer in der Fallstudie verifizierten Anforderung j erfolgt über eine einfa-che Multiplikation (1) des wis mit dem Bewertungsfaktor bjs

Mithilfe des oben dargestellten Bewertungsverfahrens ist lediglich eine Bewertung verifizierter Anforderungen möglich. Für die Anforderungen, die im Vorfeld für eine direkte Verifizierung im Rahmen der Fallstudie ausgeschlossen wurden, bietet sich darauf aufbauend eine indirekte Bewertung mithilfe eines Korrekturfaktors cs an.

Der Korrekturfaktor cs (2) ergibt sich aus dem Quotienten der durch die Bewertung erreichten Punktzahl nach der Fallstudie (Zähler) und der erreichten Punktzahl vor der Fallstudie (Nenner). Der Korrekturfaktor  ist demnach zudem eine Kennzahl, die ausdrückt, wie realistisch die Systemanbieter ihre Fähigkeiten in Bezug auf die gestellten Anforderungen eingeschätzt haben – aus Sicht der überprüfenden Partei. Für jedes untersuchte System ergibt sich cs folgendermaßen: 

                                                                                                                                                                                    

mit ms ≙ Anzahl der in der Fallstudie direkt bewerteten Anforderungen im Anforderungskatalog.
Alle Angaben im Anforderungskatalog, die nicht direkt in der Fallstudie bewertet werden können ( wks ), werden mithilfe des Korrekturfaktors indirekt wie folgt bewertet: 
 

mit k ≙ Laufvariable für Anforderungen, die nicht direkt in der Fallstudie verifiziert werden können.
Aufbauend auf der Bewertung aller Angaben der Systemanbieter zu den Anforderungen lassen sich die Ergebnisse der Bewertung hin
sichtlich der Eignung einzelner Systeme auswerten.
 


Bild 3: Exemplarische Agenda und Leitfragen.

Auswertung der Ergebnisse und  Feinauswahl

Zur Bestimmung der Eignung eines Systems wird ein Quotient (4), der sog. Eignungsgrad es, gebildet. Dieser setzt sich aus der Summe der bewerteten Angaben im Anforderungskatalog und aus der maximal durch ein System erreichbaren Punktzahl über alle Anforderungen n zusammen: 

Über das oben beschriebene Schema hinaus ist es auch möglich, wichtige Anforderungen mit einem Faktor fi zu gewichten. Der Eignungsgrad für ein System ( es ) ergibt sich dann folgendermaßen: 

Das System mit dem höchsten Eignungsgrad  erfüllt die gestellten Anforderungen am besten.
Bild 4 fasst die Schritte zur Verifizierung der Anbieterangaben und zur Auswertung der Ergebnisse schematisch und vereinfacht zusammen.
Da die Auswahlentscheidung in der Praxis neben den reinen Systemfähigkeiten häufig weitere Aspekte zu berücksichtigen hat, ist eine weitergehende Analyse zweckmäßig.

Zur Berücksichtigung und Gewichtung weiterer Einflussfaktoren – wie bspw. der Aspekte der unterstützenden Dienstleistungen (Support), der Investitionssicherheit, der Branchenkompetenz, der Investitionshöhe und der Betriebskosten – eignet sich eine Nutzwertanalyse [3]. In deren Ergebnis wird für jedes System ein numerischer Wert (Score) ermittelt, der auf der Grundlage aller in die Entscheidung einfließenden Aspekte eine Präferenzordnung für die Systemauswahl zu bilden erlaubt.
Im Rahmen der Feinauswahl erscheint es zweckmäßig, die drei bis vier Systeme, die nach dem oben beschriebenen Schema die besten Nutzwerte erzielt haben, einer weiteren detaillierten Betrachtung zu unterziehen.
 

Empfehlungen für die System-Endauswahl

Für eine finale Auswahlentscheidung sind die ausgewählten Systeme unter realen Bedingungen zu testen. Dazu bieten sich zwei Vorgehensweisen für die folgenden Schritte an: Referenzkundenbesuche und Schattenplanung („Proof of Concept“).
 


Bild 4: Bewertungsmodell, Teil 2: Verifizierung der Anbieterangaben und Auswertung der Ergebnisse.

Referenzkundenbesuch

Dieser Besuch dient dazu, das bzw. die präferierte(n) Feinplanungssystem(e) in der Praxis und unter realen Bedingungen in Betrieb kennenzulernen. Durch die praktische Begutachtung des Systems wird die Entscheidungsfähigkeit weiter erhöht.
Um die Übertragbarkeit der Erkenntnisse zu gewährleisten, sollten Referenzkunden der Systemanbieter über ein ähnliches Produktionssystem sowie über die gleiche Branchenzugehörigkeit wie das Zielunternehmen verfügen. Mindestens folgende Punkte sollten thematisiert werden:
•    Schnittstellen zur Systemeinbindung (bspw. Schnittstellen zum ERP-System)
•    Herausforderungen bei der Anwendung der eingeführten Module
•    Planungsgeschwindigkeit in Abhängigkeit von den zu planenden Objekten
•    Informationsfluss von Planungsebene zu Ausführungsebene
•    Notwendige Prozessanpassungen durch Implementierung des Feinplanungssystems
•    Dauer der Systemimplementierung
•    Projektorganisation während der Implementierungsphase
•    Empfehlungen und Konzepte zur Erhöhung der Stammdatenqualität
•    Erfahrungswerte mit unterstützenden Dienstleistungen (Support)
•    Erfolge durch die Systemeinführung.
 

Schattenplanung („Proof of Concept“)

Ziel der Schattenplanung ist, ein System parallel zum bereits bestehenden Planungsprozess unter realen Bedingungen – im laufenden Produktionsbetrieb – zu testen. Dabei sollen die Systemfähigkeiten im Einsatz geprüft werden – insbesondere die Anpassungsfähigkeit des Systems an das gegebene Produktionssystem (einschl. Anpassung an Prozesse) sowie die Benutzerfreundlichkeit des Systems. Dazu wer
den die ausgewählten Systeme in definierten abgegrenzten Unternehmensbereichen implementiert und genutzt. Die Planungsergebnisse lassen sich mithilfe von Kennzahlen messen, wie bspw. Anzahl Rüstvorgänge, Lagerbestand, Anzahl Sonderfahrten, Liefertreue etc.
 

Zusammenfassung

In den zwei Teilen des Beitrags wird ein Vorgehen zur strukturierten Auswahl eines Produktionsfeinplanungssystems beschrieben. Das Vorgehen umfasst mehrere Schritte, von der Anforderungsaufnahme über die System-Grob- und Feinauswahl bis hin zu einem Ausblick auf die System-Endauswahl. Die einzelnen Auswahlschritte werden durch praktische Hinweise sowie durch die Verwendung konkreter Werkzeuge methodisch unterstützt. Mithilfe der beschriebenen Methodik lassen sich ausgewählte Systeme objektiv vergleichen – eine Voraussetzung für die effektive und effiziente Systemauswahl für Industriebetriebe.

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Schlüsselwörter:

Manufacturing Execution Systems (MES), Advanced Planning and Scheduling (APS), Produktionsplanung, Produktionsfeinplanung, Systemauswahl, Lastenheft

Literatur:

[1] Koch, R.; Rücker, T.; Schneider, H.; Stodt, S.: Auswahl von Manufacturing Execution Systems/Advanced Planning and Scheduling Systems, Teil 1: Grundlagen einer Systemauswahl – Der Weg zum Anforderungskatalog. In: Industrie 4.0 Management 34 (2018) 3.
[2] Theuer, H.: Marktüberblick: Schlanke MES. In: productivity 22 (2017) 2, S. 41-57.
[3] Zangemeister, C: Nutzwertanalyse in der Systemtechnik: Eine Methodik zur multidimensionalen Bewertung und Auswahl von Projektalternativen, 5. Aufl. Winnemark 2014.